Rezension – Ganz normale Helden

by Alexandra Stiller
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50% der Personen, die online gehen, machen falsche Angaben über Alter, Gewicht, Beschäftigung, Beziehungsstatus und Geschlecht.
20% der Personen, die online gehen, berichten von eindeutig negativen Auswirkungen auf ihr Leben.
Das Internet spielt eine Rolle bei fast 50% aller Familien- und Beziehungskrisen.
11% der Personen, die online gehen, entwickeln Zwangs- oder Suchtverhalten.
Frauen sind mittlerweile häufiger online als Männer.
Quelle: Das Internet


London: In der Familie Delpe Ist seit Donalds Tod nichts mehr, wie es sein sollte. Der junge Donnie, der mit seinen 14 Jahren viel zu früh starb, hinterläst eine bittere Trauer in der Familie, mit der keiner richtig lernt, umzugehen. Vater Jim, Mutter Renata und der 18-jährige Sohn Jeffrey – sie leben mehr nebeneinander her als miteinander, jeder in seine eigenen Sorgen vertieft und jeder wirft dem anderen vor, den falschen Weg der Trauer zu gehen.
Jeffrey versinkt in der Welt des Internet und blüht völlig in der erschreckend realistischen Gamerwelt von Lands of Lore (LOL) auf. Als ihm der Druck seiner Eltern zu viel wird, verschwindet er und taucht bei einem Kumpel unter.
Renata und Jeff begeben sich – jeder auf seine ganz spezielle und verzweifelte Weise – auf die Suche nach ihrem Erstgeborenenen, im Nacken massive Verlust- und Versagensängste. Während Renate neuerdings mit “Gott” chattet, ergreift Jeff die Chance, seinen Jungen im world wide web zu finden. Als “AGI” loggt er sich inkognito in LOL ein und verfolgt Jeffrey, der in diesem Spiel mit dem Avatar “Merchant of Menace” eine Art Held und Mentor für andere Spieler ist und so auch eine Menge Geld verdient.
Jeff lernt schnell und gerät Level für Level immer tiefer in die Fänge des Games. Er vernachlässigt sein RL und taucht ein in Strategien, Kriegsführung und Waffentechnick. Während Zuhause alles im Chaos zu versinken scheint, lernt er im Game seinen Sohn auf eine ganz neue Weise kennen.
Werden die Delpe’s ausgerechnet über das Internet einen Weg finden, wieder in der realen Welt klarzukommen?

[…] “LOL ist eine hochkomplexe Erkundung des eigenen Ich. Ein Reich der Herausforderungen, der Selbsterkenntnis und der Denkanstöße. Glauben Sie mir, dieses Spiel kann ihr primäres Leben verändern.”
Seite 59


Anthony McCarten hat mit “Ganz normale Helden” eine Fortsetzung zum Erfolgsroman “Superhero” erschaffen, in dem er das Weiterleben der Familie Delpe nach dem Tod des Sohnes Donald berichtet. Donald – ein junger begnadeter Comickünstler – erlag schon mit 14 Jahren einer schweren Krankheit. “Superhero” befasst sich mit dem Leben des jungen Künstlers, “ganz normale Helden” mit dem Leben der Familienmitglieder danach. Mit einem Familienleben, dass nicht mehr viel mit Familie gemeinsam hat, denn ein jeder lebt alleine vor sich hin, trauert alleine. Gemeinsamkeiten finden sie nicht mehr, jeder zieht sich in sein eigenes Schneckenhaus zurück und sucht nach Fehlern im Verhalten des Anderen. Statt sich gegenseitig zu helfen und miteinander zu reden, sind Anschuldigungen und Frust an der Tagesordnung. Der Sohn Jeffrey als später auch seine Mutter Renata suchen ihre Zuflucht am Computer, indem sie sich aus dem realen Leben aus- und ins virtuelle Leben einloggen.

Anthony McCarten zeigt mit seinem Roman auf äußerst gelungene inhaltliche und sprachliche Weise auf, welchen Einfluss das Online-Zeitalter auf unser menschliches Zusammenleben, auf unsere Kommunikation, auf unsere Gefühle und Emotionen hat. Längst sind in vielen Bereichen des heutigen Lebens die virtuelle Welt und die reale Welt miteinander verschmolzen, Eins geworden durch einen schleichenden Prozess. Einiges im negativen, vieles aber auch im positiven Sinne. Es ist ein neues Zeitalter, dem man sich stellen muss, deren Tücken und Fallen man kennenlernen muss, nur dann weiß man, wie man beide Welten vernünftig miteinander verbindet. Jeff hat bittere Erfahrung gemacht, was es bedeutet, in der Onlinewelt zu versinken, sich aus dem realen Leben auszuloggen und mit einer anderen (womöglich besseren?) Persönlichkeit das Web zu durchstreifen. Ängste, Sorgen und Kummer, dem man nicht Herr wird, kann man online einfach ausblenden. Hier kann man zum Helden werden, wenn man möchte. Hier kann man sein, wer man wirklich möchte. Ausleben, was man sich in Wirklichkeit nicht zutrauen und gar zugestehen möchte. Bestes Beispiel dafür liefert der junge Jeffrey, der erst in seiner für ihn perfekten Onlinewelt antestet, wie seine tatächliche sexuelle Veranlagung aussehen könnte. Erst als er sich online komplett damit vertraut gemacht hat,traut er sich auch in der realen Welt den letzten Schritt. Im Netz fällt es einfacher, hier kann man sich unter dem Mantel der (vermeintlichen) Anonymität verstecken und seine Grenzen herausfinden. Auch hat Jeffrey einen Weg gefunden, seine Trauer auszuleben. Auf eine Weise, die jedem, der keinen Zugang zur Onlinewelt hat, als äußerst unverständlich und vielleicht auch inakzeptabel erscheint. Aber es ist SEIN Weg, damit umzugehen. Der Weg mag verrückt klingen, aber schlussendlich ist es ein WEG, mit der Trauer umzugehen und aus ihr herauszufinden. Ein WEG der neuen Generation. Jede Generation hat andere, neue Wege gefunden – und dies ist eben einer der heutigen.

Ähnlich ergeht es ja auch der Mutter Renata. Sie geht nicht in die Kirche, sie holt sich ihre ganz persönliche Kirche nach Hause ins Wohnzimmer, in Form ihres Laptops. Sie chattet online mit “Gott”. Dies klingt fremd, gewöhnungsbedürftig und für den ein oder anderen womöglich auch abartig. ABER auch hier spiegelt sich die neue Generation wider. Man muss lernen, neue Dinge zu akzeptieren. Sie sucht einen Weg, sich mitzuteilen, ohne ihre schützende Umgebung zu verlassen – und findet diesen auch. Manchmal muss man einfach ungewöhnliches wagen, um einen Schritt weiterzukommen im Leben.
Jedes einzelne Familienmitglied ist in seiner persönlichen Charakteristik äußerst gelungen und authentisch dargestellt. Es fällt dadurch sehr leicht, sich in die jeweilige Person hineinzuversetzen, an ihrem Leben teilzuhaben. Immer wechselnd wird aus der Sicht der drei Familienmitglieder in der dritten Person erzählt, und so erhält man viel Einblick in die Gedanken und Empfindungen der Protagonisten.

Durch das ständige Wechseln der Schriftart (normale und kursive Schrift, Fettschrift und Grossschrift ) erhält das Geschriebene zudem etwas Lebendiges. Wichtige Dinge fallen sofort ins Auge, heben sich besonders hervor. Durch die unterschiedliche Schrift weiß man auch sofort, ob man sich in gerade der realen oder der virtuellen Welt befindet. Wenn zum Beispiel Jeff gerade als AGI unterwegs ist, und trotzdem zwischendurch seinen durchaus realen Gedanken nachhängt, kann man dies sofort an der Schrift erkennen und das Lesen wird dadurch sehr erleichtert.
Das Spiel mit der Schrift macht das Buch zu etwas besonderem …

[…] “Gänzlich verschwunden der aufsässige Jugendliche, der lebte, als hätte er permanent die FESTSTELLTASTE GEDRÜCKT, alles war ÜBERTRIEBEN UND SUPERDRINGEND UND ZU GROSS GESCHRIEBEN, GEFÜHLE WICHTIGER ALS VERSTAND, TRÄUME WICHTIGER ALS DAS GEWISSEN, ANGETRIEBEN VON SO VIEL ÜBERZEUGUNGSWILLEN UND HYPE, DASS DIE GRENZE ZWISCHEN FAKT UND FIKTION SCHLIESSLICH … VERPUFFT. Dieser Junge? Nicht mehr da. ”
Seite 29


Ein faszinierender Roman voller Tragik und Drama, aber auch voller Hoffnung, Gefühle und fast unbeschreiblicher Emotionen, der mich von der ersten Seite an gepackt und gefesselt hat. Ich habe mitgelitten, mitgetrauert, mitgefiebert und auch mit”gezockt”, war vollkommen im Geschehen vertieft.
“Ganz normale Helden” zeigt deutlich und auf faszinierende Weise auf, wie sehr das Internet seit seinem Bestehen in die heutige Gesellschaftsstrukur eingegriffen hat, sich verankert hat und ein fester Bestandteil davon geworden ist.
Ich bin begeistert, wenn nicht gar fasziniert über Anthony McCartens Schreibstil, seine Wortwahl, seine Art und Weise, wie er schwierige Themen anpackt und sie auf nahezu geniale Weise verarbeitet, ohne zu belasten. “Ganz normale Helden” habe ich an einem Stück “verschlungen”, weil es mir fast unmöglich erschien, das Buch zur Seite zu legen. Ich war gefesselt davon

Rezensiert von Alexandra

4 comments

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4 comments

Bookaddicted.de 11. September 2012 - 10:53

Hallo Alexandra, ich bin über das Magazin “bücher” auf das Buch aufmerksam geworden und schwups stand es auf meinem Wunschzettel. Dann habe ich aber die Leseprobe gelesen und die hat mir nicht so zugesagt. Außerdem finde ich das Buch ziemlich teuer. Dass du jetzt eine so positive Rezi geschrieben hast, hilft mir nun so gar nicht 😉

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Jennifer 12. September 2012 - 6:10

Hi,
sehr schöne Rezi. 🙂 Ich habe das Buch auch gelesen und fand es auch sehr gut. Es zog einen mit und bringt den Leser zum Nachdenken. Ich habe daraufhin Superhero auch auf meine Wunschliste gesetzt.
Viele Grüße
Jennifer

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B_Jones 14. September 2012 - 19:08

Also ich persönlich finde es wirklich sehr gelungen. Es ist allerdings aber auch eine ortsetzung. Der erste Teil heisst “Superhero”
Aber man kann dieses Buch sehr gut alleinstehend lesen.
Ich habe Superhero auch erst nachträglich gekauft.
Das Buch ist relativ teuer, das ist richtig. Vielleicht wird es dazu nach einer Weile noch eine Taschenbuch-Variante geben.

Ich hatte wirklich große Freude an der Sprache, am ganzen Buch.

Liebe Grüße
Alexandra

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B_Jones 14. September 2012 - 19:09

Ja, ich war auch total hin und weg.
Ich habe mir Superhero sofort geholt – und auch noch zwei weitere Bücher des Autors 🙂
Andrew McCarten gehört ab sofort zu meinen Lieblingsautoren 🙂

Liebe Grüße
Alexandra

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