Rezension| Vor dem Sturm | Jesmyn Ward

by Alexandra Stiller
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Wie kann man sich helfen, wenn kaum einer für sich selbst sorgen kann?

Ein Blick in den Klappentext: Ein Hurrikan braut sich über dem Mississippi-Delta zusammen, aber Esch und ihre drei Brüder, die mit dem Vater in einer zusammengezimmerten Hütte am Rande des Waldes inmitten von Hühnern und alten Autowracks leben, haben noch andere Sorgen. Mit kleinen Diebstählen und viel Liebe versucht Skeetah, die neugeborenen Welpen seiner Pitbull-Hündin China durchzubringen. Randall will Basketballprofi werden, aber zugleich müssen er und Esch sich um Junior, den Jüngsten, kümmern, dem wie allen die Mutter fehlt, die bei seiner Geburt gestorben ist. Da merkt die Fünfzehnjährige, dass sie schwanger ist – von Randalls bestem Freund, der mit einer anderen zusammenlebt. Wem kann man sich anvertrauen, wenn kaum einer für sich selbst sorgen kann? Und doch stehen die Geschwister, wortlos und mit kleinen Gesten, unverbrüchlich füreinander ein. Versuchen, ohne Geld Vorräte anzulegen, mit Treibholz das Haus sturmfest zu machen. Als die zwölf Tage, die den Rahmen für den Roman bilden, zu einem dramatischen Abschluss kommen, sammelt die Familie ihre Kräfte, um einem neuen Tag ins Gesicht zu sehen.

Manchmal nimmt man ein Buch zu Hand, blickt das Coverbild an, liest den Klappentext und man weiß schon im tiefen Inneren: dieses Buch lohnt sich! Dieses Buch will, nein MUSS gelesen werden, denn hier erwartet einen etwas ganz Besonderes. Und wenn sich dieses Bauchgefühl meldet, dann sollte man nicht zögern und sofort als Lesen anfangen.  Mir erging es so mit diesem Roman “vor dem Sturm” von Jesmyn Wards Roman (im Original unter dem Titel Salvage The Bones erschienen) , der unter anderem den National Book Award erhalten hatte.

Hier kommen viele Dinge zusammen, die diesen Roman für mich zu einem Lese-Hightlight machten. Schon der Schreibstil der Autorin konnte mich ungemein fesseln. Schnörkellos, tiefgründig, direkt und sprachlich unglaublich gut an die Situationen angepasst. Sie erzählt die Geschichte aus Sicht der jungen Esch in der Ich-Perspektive und lässt somit einen wunderbaren tiefen Blick auf das Innerste ihrer Protagonistin zu. Sie erzählt aus dem schwierigen Leben in einem sehr armen Viertel im Süden der USA, in dem die Bevölkerung hauptsächlich Schwarz isz und konzentriert sich dort bewusst auf die Familie von Esch und deren Freunde/ Umfeld. Sie behandelt die ganze Thematik unglaublich behutsam und doch sehr direkt und scheut sich auch nicht, dabei politisch aufzutreten und ihre Leser auf diverse Missstände hinzuweisen. Sie öffnet einen tiefen Blick auf die arme Seite der USA, die zwar zum Teil bekannt ist, aber den Leser doch wieder erschüttert zurücklässt. Der angekündigte Sturm, der drohende Hurricane, wird von der Familie anfänglich ignoriert. Nur Eschs Vater nimmt die Lage ernst, doch sein Hang zum Alkohol raubt ihm die Energie, sich ernsthafter darauf vorzubereiten. So fährt er seine Kinder herrisch an, das Haus zu sichern, Vorräte herbei zu schaffen und Wasser zu bunkern.

Doch noch herrscht die große “Ruhe vor dem Sturm”. Die Kinder hängen ihren eigenen Sorgen und Bedürfnissen nach. Da sie ihre Mutter früh verloren haben, müssen sie sowieso schon viele Aufgaben erledigen und Verantwortung übernehmen für Dinge, für die sie eigentlich noch zu jung sind. Esch muss sich um ihren jüngsten Bruder Junior kümmern, Skeetah versorgt seine Pitbull-Hündin China, die Nachwuchs bekommt und Randall trainiert verbissen für seine Basketball-Karriere.

Esch führt heftigste innere Kämpfe mit sich durch. Beobachtet sie doch an einem Tag noch die Hündin China bei der Geburt ihrer Welpen, muss sie am nächsten Tag feststellen, dass sie selbst Schwanger ist! Eine Achterbahn der Gefühle macht sich breit – in ihr brodelt quasi ein eigener Sturm, braut sich ein eigener Gefühls-Hurricane zusammen.  Jeder der Kinder hat so seinen eigenen persönlichen Sturm zu bewältigen. Ihre Charaktere sind dabei sehr tiefgründig und facettenreich gezeichnet.  Kleine typische Dramen des Erwachsenwerdens spielen sich ab. Die junge unerwiderte Verliebtheit von Esch in Manny, der vermeintliche Vater ihres ungeborenen Kindes. Dieser distanziert sich sofort von ihr, als er von ihrer Schwangerschaft erfährt und kehrt zu seinem Mädchen zurück.

“Ich bin schwanger. […] Die schreckliche Wahrheit über das, was ich bin, flammt wie ein trockenes Herbstfeuer, dass alle abgefallenen Kiefernnadeln verschlingt, in meinem Bauch auf. Da ist etwas. ” (Seite 50)

Machtkämpfe zwischen den Jungs, die die jeweilige Position in der Clique stärken und sichern sollen. Und Big Henry, der im Geheimen über Esch wacht, weil er ihr seine Liebe nicht gestehen kann, nicht den Mut dazu aufbringt. Sehr gelungen ist hier, dass Jesmyn Ward darauf verzichtet, typische Klischees einzubringen. Sie verfällt in den Dialogen bewusst in einen Slang und verleiht so den Kids Authentizität. Man bekommt das Gefühl vermittelt, dabei zu stehen und einer tatsächlichen Unterhaltung zu lauschen. Und über all dem liegt der drohende Sturm, der Hurrikan, der sich ankündigt.

Das Buch berichtet zuletzt “nur” aus zwölf Tagen aus dem Leben der Familie. In elf Tagen baut sich der Sturm subtil, ganz unscheinbar und nebensächlich auf. Erst als die Zeichen quasi schon am Himmel stehen, wird die Gefahr endlich auch bewusst wahrgenommen und alle versuchen, mit dem Wenigen, was sie haben und finden können, das Haus zu schützen. Die Not macht erfinderisch und schweißt zusammen. Und dann – am elften Tag – ist er da, der Hurricane, mit all seiner zerstörerischen Kraft. Der Sturm wird zur Bewährungsprobe für die Familie. Jetzt ist ihr Zusammenhalt gefragt …

Kurz & gut – mein persönliches Fazit

Wie oben schon erwähnt, ist der Roman “vor dem Sturm” für mich ein facettenreiches und tiefgründiges Lese-Highlight. Voller tiefgründiger Metaphern und trotz seiner markanten Nüchternheit emotional und ergreifend, bewegend, mitreißend. Ein Buch, welches man liest, zuschlägt und noch einige Tage auf sich einwirken lässt. Ein Buch, dass zum Mit- und Nachdenken auffordert. Eine Geschichte über Familie, Freunde und Zusammenhalt. Eine Geschichte, die auch wachrütteln soll und auf Missstände in der amerikanischen Politik hinweisen soll.

Ein Buch, für das man sich unbedingt Zeit nehmen sollte, damit auch alle Botschaften bewusst und mit dem nötigen Ernst aufgenommen werden können. Ich persönlich habe diese Geschichte aus diesem Grund sogar zweimal gelesen.

© Rezension: 2013, Alexandra Zylenas

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