Rezension || Liebe Lucy | Julie Sarkissian

by Alexandra Stiller
...

“Die beste Person, der du ein Geheimnis erzählen kannst, bist du selbst”

Lucy ist ein ungewöhnliches Mädchen mit einem ungewöhnlichen Blick auf die Welt. Die Leute schütteln den Kopf über sie, sie ist viel zu langsam und immer fehlen ihr die Wörter. Aber dafür hat sie ja Jennifer, das sprechende Küken in ihrer Schürzentasche. Leider verhält sich Lucy nicht immer so, wie es ihrer Mutter gefallen würde, sie hat einfach kein gutes Benehmen. Deshalb lebt sie auf die Farm von Mister und Missus, einem älteren Ehepaar. Hier trifft sie Samantha, ein schwangeres Mädchen. Die beiden freunden sich an – auch wenn Samantha nicht immer die Wahrheit über ihre Vergangenheit erzählt. Dafür sagt sie die Dinge so, dass Lucy sie versteht. Nach und nach finden die beiden heraus, dass Mister und Missus ein finsteres Geheimnis haben. Als Samanthas Baby kurz nach der Geburt verschwindet, verspricht Lucy, es wiederzufinden, und “ein Versprechen ist etwas, das du niemals vergessen darfst, nicht einmal, wenn du so tust, als hättest du es vergessen.” Also macht sie sich auf die abenteuerliche Suche nach Samanthas Baby

Meine Gedanken zu dem Buch:

Julie Sarkissian legt mit “Liebe Lucy” ein faszinierendes und facettenreiches Debüt vor, dessen Einstieg auf den ersten Seiten vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig erscheint, aber gerade dadurch auch die Neugierde auf das Kommende weckt.
Der Roman wird aus drei Perspektiven erzählt. Zum einen ist da natürlich Lucys Geschichte, der für den Leser selbst wohl ergreifendsten Part des Buches. Aber es kommt natürlich auch ihre Freundin und Beschützerin Samantha, eine Mitbewohnerin auf der Farm, zu Wort. Samantha ist schwanger und hadert mit sich und ihrem Schicksal, welches sie auf die Farm brachte. Nach und nach erfährt man auch darüber mehr. Und dann ist da noch die Missus der Farm. Verbittert und enttäuscht vom Leben und in erster Linie von sich selbst, sieht sie nur eine Lösung, den (eingebildeten) Wünschen ihres Mannes gerecht zu werden. Sie verliert sich in ihren Selbstzweifeln und ihrer ausgeprägten Depression und sieht die Realität mit verzerrtem Blick. Durch den ständigen Wechsel zwischen diesen drei Parts setzen sich die Puzzleteile der Geschehnisse zu einen großen Ganzen zusammen.

Erwähnenswert sind zudem noch die kleinen Einwürfe von Lucys Mutter in Form von Briefen, die sie an ihre Tochter, die “Liebe Lucy” schreibt, aber nie abschickt. Briefe, in denen sie versucht zu erklären, daran aber scheitert. Lucy ist eine kleine äußerst bemerkenswerte Protagonistin, bei der man nicht umhin kann, sie binnen weniger gelesenen Seiten vollkommen ins Herz zu schließen. Lucy-von-der-Farm, wie sie sich selbst nennt, hat ihre ganz eigene Sichtweise auf die Welt und auf die Dinge, die um sie herum geschehen. Von ihrer überfordernden Mutter, die sich ihr freies Leben voller Spass zurücksehnt, auf die Farm von Missus und Mister abgeschoben, fügt sich Lucy und versucht, ihre zugeteilten Aufgaben zu meistern, dass jeder stolz auf sie sein kann. Für viele Dinge hat sie keine Erklärung parat, versteht sie nicht. Aber sie ist wissbegierig und setzt alles dran, diesen Dingen auf den Grund zu gehen.

“Wenn es vorher nichts war und jetzt etwas ist. Wenn du es nicht beobachten konntest, obwohl du es wolltest. Wenn du es nicht sehen konntest, obwohl du hingesehen hast. Das ist das Geheimnis des Wachsens.«

Oft fehlen ihr die Worte dafür, oft kann sie nicht ausdrücken, was sie denkt – aber auf ihre Weise ist sie unheimlich schlau und lernbegierig. So sucht sie für sich nach dem Sinn des Lebens, nach dem Geheimnis des Wachsens und bekommt ein feines Gespür für Familie, Wachsen und Gedeihen, für Recht und Unrecht, für richtig und falsch. Was ihr keiner sonst erklären kann (vor allem seit Samantha nicht mehr auf der Farm ist), erklärt ihr Jennifer, das Hühnerküken, welches quasi in Lucys Hosentasche lebt. Eine sehr skurrile aber dennoch äußerst liebevolle Freundschaft, die auf Geben und Nehmen beruht – mal Aufbrausend, mal Beruhigend. Die beiden ergänzen sich, bilden ein Team.

Lucys Herangehensweise an die Dinge faszinieren ungemein. Wenn sie etwas nicht versteht, dann rollt sie oftmals die Dinge von hinten auf, bastelt sich ihre eigene Logik zurecht und auch wenn es manchmal Umwege braucht – so kommt sie auch zum Ziel und lernt zu verstehen. Von Lucy kann man als Leser selbst noch so einiges lernen, zum Beispiel die Dinge einfach mal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, andere Denkweisen zuzulassen. Lucy kann vieles nicht erklären. Aber sie verfügt über eine natürliche, völlig uneingeschränkte Nächstenliebe. Sie sieht das Gute, das Schöne und sie ist so ehrlich, so echt – weil sie auch einfach gar nicht wüsste, was es bedeutet, sich zu verstellen. Das macht sie so unglaublich bemerkenswert und liebenswert.

Lucys Erzählstil ist gewöhnungsbedürftig, da sie sich in ihrem eigenen Lernprozess oft wiederholt und man sich für ihre kindliche Denkweise öffnen muss. Aber nach einigen Seiten findet man dann doch schnell ins Geschehen hinein und gewöhnt sich an diesen Stil, der nach und nach sogar regelrecht begeistert. Sarkissian zeichnet ihre Protagonisten äußerst facettenreich und voller Hingabe. Nichts erscheint überzogen, wenn einem auch manche Dinge zuerst skurril vorkommen (man denke an das Küken in der Hosentasche …). Aber “Normal” gibt es einfach nicht. Was ist auch normal? Normal erscheint uns das , was wir gewohnt sind. Aber Lucy zeigt uns eben andere Wege…

Kurz & gut – mein persönliches Fazit

Ein tiefgründiger, emotionaler Roman über das Leben selbst, über Freundschaft und Familie, über Glück und Geborgenheit, über Recht und Unrecht. Manchmal schockierend, dann wieder überaus amüsant und sehr liebevoll im Detail und voller Überraschungen. Ein Buch, dass unglaublich zum Nachdenken anregt, dass so viel für den Leser bereit hält und dass gerade deshalb mit viel Ruhe und Zeit gelesen werden will. Man muss sich voll und ganz darauf einlassen und sich fallen lassen, übliche Denkweisen abschalten und sich öffnen für Lucys Welt. Ein Leseerlebnis der ganz besonderen Art, dass noch lange nachhallt.

© Rezension: 2014, Alexandra Zylenas

0 comment

Lust zum stöbern und entdecken?

Schreibe uns Deine Meinung