Rezension || Kalte Haut | Martin Krist

by Wolfgang Brandner
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Berlin wird von einer Mordserie erschüttert. Der Täter stellt Filme ins Internet, auf denen zu sehen ist, wie er seine Opfer quält. Dann lockt er Journalisten zu den Leichen. Vieles deutete auf einen Zusammenhang mit den Ausländerhetzkampagnen des Innensenators hin. Kommissarin Sera Muth und ihr Ermittlungsteam ziehen den Polizeipsychologen Dr. Babicz hinzu. Diesem kommt das Vorgehen des Täters vertraut vor. In den USA hatte er bei der Überführung eines Mörders mitgewirkt, der seine Opfer bei lebendigem Leib häutete. Ist der »Knochenmann« nun zurück?

Martin Krist ist das Pseudonym des erfolgreichen Autors Marcel Feige. Geboren 1971, arbeitete er als leitender Redakteur bei verschiedenen Zeitschriften und lebt seit 1998 als Schriftsteller in Berlin.

(Text und Bild: Midnight by Ullstein)

In über hundert kurzen Kapiteln erzählt der Autor in personaler Perspektive überwiegend aus der Sicht der Kommissarin Sera Muth und des Fallanalytikers Dr. Robert Babicz – der die Berufsbezeichnung “Profiler” ablehnt. Durch den permanenten Wechsel der Sichtweise werden mehrere Handlungsstränge parallel zueinander entwickelt, die sich zuweilen überschneiden, zuweilen weit voneinander entfernt die Geschichte vorantreiben. Die Erzählzeit entspricht in den einzelnen Kapiteln überwiegend der erzählten Zeit, als besonderes Stilmittel kommt es in entscheidenden Szenen zu einer zeitlichen Verschiebung der Erzählfäden. Das bedeutet, daß eine Situation, deren Entstehung in einem Kapitel beschrieben wird, in einem zuvor gesetzten bereits eingetreten ist. Der Leser erhält somit einen Informationsvorsprung gegenüber den Figuren, der sich jedoch durch kunstvolle Wendungen wiederum als vermeintlicher entpuppt. Besondere Nähe entsteht außerdem durch syntaktisch nicht abgehobene Gedanken der jeweils agierenden Protagonisten. Im Kontext ist dabei niemals unklar, wem diese Betrachtungen zuzuordnen sind, womit die Geschichte an emotionaler Färbung gewinnt, ohne, daß der Erzähler seine neutrale Position aufgeben muß. Ein ebenfalls gezielt eingesetztes Stilmittel ist die Musik, die wie ein wohlkomponierter Soundtrack immer wieder einzelne Situationen untermalt. U2 wird dabei Antonio Salieri gegenübergestellt, um die unterschiedlichen Persönlichkeiten zu unterstreichen, und bei Grübeleien über Entführungsopfer singt Sting im Hintergrund “There really isn’t need for bloodshed.”

Daß der Name Martin Krist ein Pseudonym ist, daraus macht der Autor kein Geheimnis. Unter seinem bürgerlichen Namen Marcel Feige wurden bereits Thriller, gesellschaftliche Reportagen und Künstlerbiographien (unter anderem von Kurt Cobain) veröffentlicht. Zudem ist er Redaktionsmitglied des renommierten Genre-Blogs krimi-couch.de und kann somit auf eine langjährige Erfahrung nicht nur als Autor, sondern auch als kritischer Rezensent verweisen. Hier ist also jemand am Werk, der mit den Gepflogenheiten moderner Spannungsliteratur bestens vertraut ist, um den Einsatz stilistischer Mittel und ihre Wirkung weiß. Die Steigerung der Spannung ins Unerträgliche durch offene Kapitelenden und darauf folgende Perspektivenwechsel gehört dabei ebenso zum Repertoire wie falsche Fährten. Sätze wie “Im selben Moment erkannte sie ihren Fehler” und “Neben ihr tauchte eine Gestalt auf.” sind zwar als Werkzeuge hinlänglich bekannt und durchschaubar, verfehlen dennoch ihre Wirkung keineswegs.

Besonderes Gespür beweist Krist auch in den Informationen über die Mordermittlungen und das Gefühlsleben der Figuren, die er dem Leser zur Verfügung stellt. Weder verwirrt er den Leser durch fehlende Erklärungen, noch begeht er den Fehler, ihn durch tautologische Wiederholungen zu langweilen. Gezielt gesteuert durch kleine Wissenshäppchen, die nach mehr lechzen lassen, dürfen immer wieder eigene Schlüsse gezogen, kleine Erfolge beim Mitfiebern erlebt werden. Trotz der Grausamkeit der geschilderten Taten verzichtet Martin Krist auf billige Effekthascherei, indem er sich wie andere Autoren an den Details weidet und überläßt die Ausgestaltung der entsprechenden Szenen der Phantasie des Lesers.

Der Roman spielt vor dem gesellschaftlich höchst aktuellen Hintergrund zunehmender Ressentiments gegenüber Migranten und Angehörigen der islamischen Religionsgemeinschaft. Wiederholt wird die Handlung anhand von Zeitungsartikeln aus der Redaktion des fiktiven “Kuriers” kommentiert, was zum einen Authentizität erzeugt, zum anderen dem Autor die Gelegenheit bietet, gezielt den Tonfall des Boulevardjournalismus zu imitieren. Formulierungen wie “Der versuchte Ehrenmord an der schönen Adile (24) erschüttert Berlin.” unter einer Schlagzeile “Türkin von Ehemann niedergestochen” könnte tatsächlich in auflagenstarken Druckwerken zu lesen sein und Öl ins Feuer des öffentlichen Diskurses gießen. Ergänzend blickt der Autor in das Wohnzimmer einer türkischen Familie, wo neben Bildern von Verwandten Häkeldecken und bestickte Kissen zu finden sind und angehende Sportler im Kindesalter ihr Können mit dem Ball demonstrieren. Zum Kaffee werden Desserts nach überlieferten Rezepten gereicht, und die Gespräche drehen sich um Sport und Politik. Anhand von Konversation und Kulinarik entstehen somit Parallelen zu den Gebräuchen in deutschen Stuben, eine etwaige Bewertung wird angenehmerweise dem Leser überlassen. In der Begegnung sind kulturelle Mißverständnisse natürlich vorprogrammiert. Ob diese aufgelöst werden können, ist großteils vom guten Willen der beteiligten Personen abhängig, wie aus nebenbei eingeflochtenen Szenen vom Gelingen und Scheitern der Begegnungen abgeleitet werden kann.

 

Persönliches Fazit

Kein literarischer Hobbykoch, sondern ein Jamie Oliver des Thrillers serviert hier geschmacklich fein nuancierte Hochspannung, gewürzt mit gegenwärtigem gesellschaftlichem Geschehen. Ein hoch empfehlenswerter Lesegenuß!

© Rezension: 2015, Wolfgang Brandner

 

Kalte Haut
Sera Muth 1
Martin Krist
Thriller
Ullstein Verlag - ISBN: 9783958190238
2015
ebook, 448 Seiten
1 comment

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Ramona (Kielfeder) 8. Januar 2015 - 12:17

Das klingt total süß!
Muss ich mir wohl merken. 🙂
Liebe Grüße,
Ramona

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