Rezension: London Underground | Oliver Harris [Hörbuch]

by Wolfgang Brandner
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Bei einer Verfolgungsjagd durch die Londoner City entdeckt Detective Nick Belsey einen Bunker und ein mysteriöses Tunnellabyrinth unter den Straßen der Stadt. Der Verdächtige verschwindet darin spurlos, aber der ungewo¨hnliche Ort bringt Belsey auf eine Idee: Am Abend verabredet er sich dort mit einer jungen Frau zu einem ganz besonderen Rendezvous. Als er die junge Frau in der Dunkelheit des Tunnelsystems verliert, ist ihm bald klar, dass sie entführt worden ist. Weil niemand erfahren darf, dass er selbst in den Fall verwickelt ist, ermittelt Belsey fieberhaft und muss seinen Kollegen immer einen Schritt voraus sein: Er liefert sich ein Katz-und-Maus-Spiel mit dem Entführer, gerät immer tiefer in die Londoner Unterwelt hinein und stößt dabei auf eine eiskalte Rachegeschichte, die bis in die Zeiten des Kalten Krieges zurückreicht. [Klappentext + Cover: © Rubikon Verlag]

 

Die britische Hauptstadt ist in erster Linie bekannt für ihre Sehenswürdigkeiten wie Big Ben, den Buckingam Palace, Westminster Abbey und die Tower Bridge. Touristen wird außerdem empfohlen, das wohl ausgebaute Netz öffentlicher Verkehrsmittel wie die sightseeingtourtauglichen Doppeldeckerbusse oder – für mehr Privatsphäre – die schwarzlackierten Taxis zu nutzen. Etwas mulmiger zumute mag einem werden, wenn man das Reich des Tageslichts verläßt und sich mit zahllosen anonymen Zeitgenossen einen Platz in U-Bahn teilen muß. Die umgangssprache Bezeichnung “Tube” bedeutet Röhre und ist damit angetan, bei Klaustrophobikern Schweißausbrüche auszulösen. Genau an diesem Punkt setzt der junge Autor Oliver Harris in London Underground an, indem er an die Urängste vor dem nicht sichtbaren brodelnden Unbekannten appelliert.

In seinem zweiten Roman um Detective Constable Nick Belsey beschreibt er ein weit verzweigtes Netz an Tunneln und Gängen, dass man den Eindruck gewinnt, das wahre Leben der Metropole spiele sich wie in einem Ameisenhaufen unter der Oberfläche ab. Von der Öffentlichkeit unbemerkt herrschte dort in der Zeit des Kalten Krieges reger Austausch zwischen Mitarbeitern des Nachrichtendienstes verschiedener Nationen, der mit eigens eingeführten Geheimhaltungsstufen abgesichert werden musste. Somit liegt eine tiefenpsychologische Deutung des Romanthemas praktisch auf der Hand: Auch das menschliche Unbewußte stellt man sich zuweilen als ein undurchsichtiges Gewirr von Abläufen vor, die – willentlich nicht beeinflußbar – die Persönlichkeit eines Menschen entscheidend prägen. 

Der Roman kann durchaus als eine Parabel auf den Charakter einer Stadt, eines Landes gelesen werden, wo Behörden außerhalb der Reichweite des einfachen Bürgers diese Funktion übernehmen. Der Antagonist des Romans, der verzweifelt die Lücken in seiner Erinnerung  schließen und erlittenes Unrecht grausam vergelten will, konsutliert für eine Definition des Unbewußten einen renommierten Psychiater. Somit liefert die Psychoanalyse selbst einen essentiellen Hinweis zur Lösung des Falles. Der Schluß, den der Leser bereits früh zieht, wird letztlich explizit formuliert, als die verschütteten Gedächtnisfragmente mit den nicht mehr zugänglichen Tunneln unter der Stadt gleichgesetzt werden.

Hintergrund dieser Aufarbeitung eines tiefsitzenden Traumas ist wiederum die Angst vor einem Atomkrieg in der Zeit des Wettrüstens. Die Eindrücke der beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki saßen tief, der Kalte Krieg erzeugte eine Atmosphäre permanenter Anspannung. Klar also, daß für eine Metropole wie London Vorkehrungen für den Fall eines vernichtenden Angriffs getroffen wurden. Die Handlungsfähigkeit von Regierung, Geheimdienst und Militär mußte um jeden Preis erhalten werden, wofür unterirdische Bunkeranlagen gebaut und mögliche Szenarien immer wieder und wieder erprobt wurden. Schließlich war die Bedrohung vorüber, pragmatisch wurde das Arsenal an Top-Secret-Prozeduren einfach vergessen. Die Psychoanalyse würde hier von Verdrängung sprechen – die so lange funktioniert, bis das Verdrängte an die Oberfläche drängt und aufgearbeitet werden muß.

Dieser Stein wird nun von Nick Belsey ins Rollen gebracht, der zum Verkehrspolizisten degradiert, im Zuge einer Verfolgungsjagd auf einen Eingang zu den Tunneln stößt. Im Leichsinn des Hormonrausches nutzt er seine Entdeckung als einen originellen Ort für ein Rendezvous. Der Antagonist erkennt die Chance, seine ganz eigene Geschichte ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren und entführt Belseys erst 22jährige Geliebte. Dieser findet sich somit tiefer involviert als es seiner Karriere zuträglich ist und sieht sich gezwungen, die Situation möglichst unauffällig aufzuklären. Da sein Vorgehen von seiner Dienststelle nicht gedeckt wird, muß er als Einzelkämpfer an den Rändern des Gesetzes agieren. Anfangs wirkt er in dieser Rolle noch unbeholfen, taumelt von einer Falle in die nächste, zieht, jede Entscheidung hinauszögernd, von Bar zu Bar. (Später sollten ihm diese praktischen Erfahrungen zugute kommen, als er das “alkoholgetränkte Pub-Archiv in seinem Gedächtnis” durchforsten muß.) In dem Maß, in dem sich die Brisanz des Falles steigert, sich immer mehr Andeutungen zu gefährlichem Wissen verdichten, wächst auch Belseys Entschlossenheit. Angenehmerweise vermeidet der Autor eine comicartige Transformation eines Durchschnittsbürgers zum Superhelden, vermittelt stattdessen glaubhaft, wie seine Hauptfigur ganz ihm Rahmen ihrer Persönlichkeit und Ausbildung vom kräfteschonenden Dauerlauf geradezu in den Zielsprint explodiert.

Analog zu dieser sukzessiven Veränderung der Figur fügen sich auch die einelnen Handlungskomponenten wie in einem Puzzle (passenderweise einer der Schlüsselbegriffe) zu einem Gesamtbild zusammen. Was zunächst beliebig und unzusammenhängend wirkt, konstituiert sich zu einer logisch stimmigen, weit verwurzelten Geschichte. In mühsamer detektivischer Arbeit hantelt sich Nick Belsey von einem Hinweis zum nächsten, stets im Glauben, unmittelbar vor der Lösung des Rätsels zu stehen. (Zuweilen stellt sich dem Leser hier die Frage, ob britische Bürger denn tatsächlich dermaßen autoritätshörig sind, daß sie bereitwillig Auskunft erteilen, wenn ein unbekannter Anrufer nur andeutet, für die Polizei zu arbeiten.) Der Autor versteht es dabei, selbst über unspektakuläre Passagen hinweg eine Grundspannung aufzubauen und mit der Aussicht auf ein bombastisches Finale den Leser/Hörer zum Weiterblättern bzw. -hören zu zwingen.

Mark Bremer als Sprecher der Hörbuchfassung offenbart wenig emotionale Nuancen und trifft damit wohl eher unbewußt als absichtlich diesen Ton monotoner Routine. Mit Ausnahme des Finales, in dem er dem Hörer eine akustische Überraschung beschert, differenziert er wenig zwischen den einzelnen Figuren, nutzt also hier diese Gelegenheit nicht, dem Roman eine eigene Prägung zu verleihen. Bremers Stimme würde man sich daher eher für Monologe oder (auto)biographische Romane als für zeitgenössische Spannungsliteratur wünschen.

 

Persönliches Fazit

Eine Handlung, die danach klingt, als würde ein dem Alkohol zusprechender Ermittler die Aufräumarbeiten nach dem Abspann eines James Bond-Films übernehmen, gewürzt mit reichlich Symbolik aus der Psychoanalyse belohnt den Leser mit brisanter Hochspannung … wenn es ihm gelingt, den etwas zähen Beginn zu bewältigen.

© Rezension, 2016 Wolfgang Brandner

 

London Underground
Oliver Harris
Thriller
rubikon audioverlag
2015
Hörbuch, ungekürzt, 12 Stunden 33 Minuten
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