Rezension: The other Girl | Maggie Mitchell

by Marcus Kufner
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Lois und Carly May sind zwölf, als sie entführt und in einer abgelegenen Jagdhütte für zwei Monate eingesperrt werden. In diesem Sommer, unter dem wachsamen Blick des Entführers, gehen sie eine innige Freundschaft ein, die sie für immer verbinden wird. Nach ihrer Befreiung verlieren sie jedoch den Kontakt zueinander. Zwanzig Jahre später: Lois ist Professorin für Literatur und hat unter Pseudonym einen Roman über ihre Entführung geschrieben. Carly May kämpft in L. A. um Filmrollen und gegen den Alkohol. Bis sie ein Drehbuch in die Hände bekommt, das genau ihre Geschichte erzählt. Ihr wird die Rolle der Ermittlerin angeboten. Zufall? Es gibt nur eine Person, mit der sie jetzt sprechen will: Lois. Doch die ist nicht so leicht aufzuspüren. Nur eins ist deutlich: Die Vergangenheit holt sie wieder ein. [© Text und Bild: List Verlag]
 

Das Buch beginnt zwanzig Jahre nach der Entführung und Befreiung von Lois und Carly May. Abwechselnd erzählen die beiden aus der Ich-Perspektive von ihren Erinnerungen und ihrem Leben bis heute. Die Kapitel sind meist recht kurz, so dass doch ziemlich viel gesprungen wird. Anfangs hatte ich dadurch etwas Schwierigkeiten, die Lebensläufe und die Familiensituationen der beiden auseinander zu halten. In die Zeit der Entführung wechselt der Roman später, in dem aus dem Buch, das Lois geschrieben hat, zitiert wird. Ein recht einfallsreicher Kniff, wie ich finde. Nur das Jonglieren mit den Namen ist eine Herausforderung: als Autorin wird aus Lois Lucy, und auch Carly May hat als Schauspielerin ein Pseudonym und nennt sich Chloe. In Lois’ Roman heißen sie dann Hannah und Callie, und für die Verfilmung werden dann auch noch junge Schauspielerinnen gebraucht. Für jede gibt es also vier Namen, auch eine Leistung.

Wie die Entführung gelaufen ist, ist im Groben von Anfang an klar. Der Täter hat den Mädels körperlich nichts angetan. Was das betrifft wird erst gar keine Spannung aufgebaut. Wieso hat er die beiden entführt? Und wie weit verfolgt sie es, dass sie wochenlang in der Hand des Täters waren? Haben sie es jetzt, zwanzig Jahre später, verarbeitet oder beeinflusst sie das noch heute? Das sind die Kernfragen des Buchs, das bewusst ohne Gewalt auskommt und sich auf die psychologischen Aspekte konzentriert. Mir ist das allerdings zu langatmig geworden. Es fehlt einfach an dramaturgischen Highlights und an Erkenntnisgewinn. Die Beschreibungen der Umgebung und der Charaktere sind sehr gut, die Geschichte entwickelt sich für meinen Geschmack aber zu langsam.

Die Beziehung der beiden Zwölfjährigen zu ihrem Entführer bezeichnet man als Stockholm-Syndrom. Er ist ein charismatischer Mann, meistens ruhig und freundlich. Die beiden freuen sich über seine Aufmerksamkeit und jede will sein Liebling sein. Da fragt man sich als Außenstehender, wie so etwas möglich ist, sollten die beiden nicht vor Angst erstarren? Maggie Mitchell gelingt es, diese besondere Symmetrie glaubhaft und nachvollziehbar zu beschreiben. Immer wieder habe ich das Gefühl, dass sie sich die Zeit in der Hütte zurückwünschen.

 

Persönliches Fazit

„The other Girl” erzählt von einer Entführung und seinen Folgen für die Opfer zwanzig Jahre später. Es lässt Gewalt außen vor und konzentriert sich auf die psychologische Seite. Die Beschreibung der Charaktere und ihr Zusammenspiel sind gut und detailliert, allerdings ist mir das Erzähltempo zu langsam und durch das häufige Hin- und Herspringen zwischen den beiden Erzählerinnen hatte ich Schwierigkeiten, die beiden auseinander zu halten.

© Rezension: 2016, Marcus Kufner

 

 

The other Girl
Maggie Mitchell (Aus dem amerikanischen Englisch von Sybille Uplegger)
Thriller
List Verlag - ISBN: 9783471351123
2016
broschiert, 384 Seiten
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