Hörbuch-Rezension: Niemals | Andreas Pflüger

by Wolfgang Brandner
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Jenny Aaron ist eine Polizistin mit überragenden Fähigkeiten. Und sie ist blind. Man drängt sie zur Rückkehr in die geheime Sondereinheit, in der sie früher war. Es wäre wieder ein Leben aus purem Adrenalin. Doch will sie das? Als ihre Vergangenheit sie einholt, muss sie sämtliche Zweifel hinter sich lassen. In Marrakesch wartet der gefährlichste Mann der Welt auf sie. Jemand, von dem viele glauben, dass er nur ein Mythos sei. Aaron erfährt, was er ihr angetan hat. Um ihn zu töten, ist sie bereit, alles zu opfern, was ihr je etwas bedeutete. [Text & Cover: Randomhouse Audio Verlag]

Knallhart, abgeklärt, persönlichkeitsbildend, lehrreich.

Selten schafft es ein Roman, diese Attribute zu einem sinnvollen Ganzen zu verbinden, das weder ein Kung Fu-Film zwischen Buchdeckeln, noch eine reine Parodie ist. In der Tat wirkt der neue Roman von Andreas Pflüger, als hätten Don Winslow und Paolo Coelho gemeinsam eine Geschichte verfaßt und dem Leser die Beurteilung überlassen, wessen Einfluß deutlicher erkennbar ist.

Jenny Aaron, bekannt aus  Endgültig (Link zur Rezension), ist ein ehemaliges Mitglied einer Spezialeinheit des deutschen Bundeskriminalamtes und seit dem Verlust ihres Augenlichts im Einsatz als Fallanalytikerin tätig. Wie bereits der erste Teil setzt auch “Niemals” auf eine aus dem Kino bekannte Dramaturgie: Der actionreiche Prolog spielt in einer Zeit vor Jennys Erblindung, wo sie ihre schier übermenschlichen Fähigkeiten demonstrieren darf. Bei einem Undercover-Einsatz in der privaten Bleibe eines international gesuchten Verbrechers, probiert sie automatisch im Kopf unzählige Szenarien durch, in denen sie im Notfall in Sekundenbruchteilen mit Messern, Gabeln und Blumenvasen die muskulösen Leibwächter außer Gefecht setzen würde. Und auch ihre rasche Auffassungsgabe wird auf die Probe gestellt, als sie die Kombination eines versteckten Safes ermitteln muß …

Szenenwechsel in die Gegenwart. Jenny Aaron hadert verbittert mit ihrer Erblindung, die zwar ihre übrigen Sinne geschärft, im Panzer um ihre Seele aber immer größer werdende Risse hinterlassen hat. Aus dieser scharf gezeichneten Figur bezieht der Roman zu einem guten Teil seine unglaubliche Kraft. Nach wie vor nimmt sie es im Alleingang mit einer Überzahl auf, doch diesmal ist das Podest, auf das ihr Autor sie stellt, nicht mehr ganz so hoch wie in “Endgültig”. Dazu trägt zum einen der sparsamere Einsatz von Kampfszenen bei, zum anderen tritt auch klar die große persönliche Schwäche Aarons hervor: die Familie. Berufsbedigt ist ihr amouröses Glück unerfüllt, und als sie im Rahmen ihrer Mission auf einen sechsjährigen Buben trifft, übernimmt ihr vernachlässigter Mutterinstinkt die Kontrolle. Außerdem hat sie neben dem Verlust ihres Sehvermögens auch noch jenen ihres Vaters zu bewältigen, der ihr Kampfgeist und unbeugsamen Überlebenswillen mit auf den Weg gegeben und ihre Persönlichkeit maßgeblich geformt hat. Nun wird sie vor eine Entscheidung von existentieller Tragweite gestellt. Sie hat die einmalige Chance, den Mörder ihres Vaters zur Strecke zu bringen, verspielt damit aber die Hoffnung, das Augenlicht je wieder zu erlangen.

Eine derart exponierte Persönlichkeit wie Jenny Aaron benötigt natürlich ein Gegenstück, einen Erzfeind. Mit Ludger Holm, einem Killer von raubtierhafter Eleganz und maschineller Präzision hat sie ihr Spiegelbild bereits im Vorgängerband gefunden. Nicht nur an der Art sich zu bewegen, erkannten die beiden einander als die beiden Seiten derselben Medaille, auch an der geteilten Vorliebe für Schriftsteller, Philosophen und Denkschulen, deren Zitate sie spontan ergänzen konnten. Obwohl Holm in “Endgültig” besiegt wurde, bringt doch sein Respekt für Aaron posthum die neue Geschichte ins Rollen. Indem er ihr ein unglaubliches Vermögen hinterläßt, weist er ihr den Weg zu ihrer Rache und stellt damit ihre Persönlichkeit auf die Probe.

Bereits am rasanten Auftakt erkennt man die Parallelen zwischen Autor und Hauptfigur: Beider Vorlieben sind knallharte Action und Philosophie. Der Kampf mit Pistolen und Fäusten in einem engen Hotelzimmer ist derart detailliert choreographiert, daß die Szene in Zeitlupe im Kopf des Lesers abläuft. Die Sprache muß dem Tempo der Handlung folgen, Gegner werden anhand äußerlicher Merkmale eingeordnet und mit Namen wie “Grünjackett” und “Zweiholster” versehen. Den Stil visuell orientiert zu nennen, wäre jedoch zu kurz gegriffen. Vielmehr orientiert er sich mit der Darstellung von Eindrücken an Jenny Aaron. Vor ihrer Erblindung prüft sie instinktiv jede Situation aus den Augenwinkeln auf einen möglichen Hinterhalt. Im Rahmen der Haupthandlung reist sie nach Marrakesch, das nicht mehr anhand von Farbnuancen oder Lichtreflexionen beschrieben wird, sondern den Gerüchen des Marktes, dem Staub, der auf der Haut kratzt, der Hitze, der Straßengeräusche, die den Blindenstock unbrauchbar machen.

Viele Dialoge in Aarons Spezialeinheit wirken arg mit kumpelhafter Schulterklopferei aufgeladen und erzählen von einer Abgeklärtheit wie man sie nur erwirbt, wenn man dem Tod in vielen seiner Gestalten begegnet ist. Wo harte Männer unter ihresgleichen sind, ist auch die Sprache nicht jugendfrei, wird eine zotige Beleidung zu einem Ausdruck gegenseitiger Wertschätzung. Der Autor bedient sich großzügig an einschlägigen Klischees, doch es würde unpassend, unvollständig wirken, täte er dies nicht.

Was hingegen diesmal zu kurz kommt, sind Aarons Top Ten-Listen, lose Aneinanderreihungen von Gedanken, Wahrnehmungen, Vorlieben, die im ersten Teil spontan in den Text geworfen wurden und wesentlich dazu beitrugen, ihre Persönlichkeit zu zeichnen. Eine solche Liste sähe etwa folgendermaßen aus:

Zehn Sätze des Romans, die im Kopf nachhallen:

* Wenn sehende Menschen morgens aufwachen wird es hell, für Aaron wird es dunkel.
* Alles an ihm ist viereckig, sogar das Gesicht, in dessen Poren sich Ameisen verstecken können.
* Wenn man in die Fußstapfen einer Legende tritt, erbt man auch deren Feinde.
* Wer sich der Liebe verschließt, dem ist die Erde ein Grab.
* Was rechtfertigt Rache?
* Töten ist einfach, nur leicht ist es nicht.
* Sich zu rächen, heißt, zwei Gräber auszuheben.
* Er bestellte letzte Grüße der Familie Glock.
* Nur im Schmerz zeigen wir, wer wir wirklich sind.
* Du bist nicht Black Mamba, und das ist nicht Kill Bill.

 

À propos “Kill Bill”: Obwohl der Autor es mit dem genannten Zitat abstreitet, sind doch Ähnlichkeiten zu Tarantinos Racheepos unverkennbar. Mit subtilem Humor gibt der Autor eine mögliche Lesart des Romans vor, wie auch bereits in “Endgültig”, wo ein Comic über den blinden Superhelden Daredevil auftauchte. Und wenn im Hafen ein Boot mit dem Namen “Unsinkbar 2” liegt, lächelt man über Andreas Pflügers subtilen Humor.

Dem Thema folgend, ist es nur angemessen, einen Roman wie diesen als Hörbuch zu genießen. Wobei … als Genuß, als Lektüre vor dem Kachelofen ist “Niemals” wohl nicht angelegt. Man wird förmlich in die Geschichte hineingerissen, gezwungen, sie in Aarons Haut zu durchleben. Auch diesmal leiht Nina Kunzendorf ihren Gedanken die Stimme, und ebenso wie die Hauptfigur an ihren Entscheidungen wächst, wirkt auch der Tonfall erwachsener. Die Wörter fließen nicht mehr ineinander, sind so selbständig, daß sie sich nicht mehr gegenseitig stützen müssen. Die Sprache ist jung, kräftig und doch mit einem melancholischen Unterton, wie mit einer unauslöschlichen Narbe gezeichnet. Nina Kunzendorf läßt den Hörer wie ihre Hauptfigur mit den Ohren sehen und potenziert implizit, wovon der Text erzählt: Jenny Aaron ist gereift.

Letzendlich bleibt nur eine Frage unbeantwortet: Wann erscheint der nächste Teil um Jenny Aaron?

 

Persönliches Fazit

Action mit Anspruch von einem klugen Autor, einer gleichzeitig unverwundbaren und zerbrechlichen Hauptfigur und einer Sprecherin, die jede Nuance erfühlt: “Niemals” ist ein deutscher Hochgeschwindigkeitsthriller mit fernöstlicher Philosophie.

© Rezension: 2018, Wolfgang Brandner

 

 

Endgültig
Andreas Pflüger
Thriller
Randomhouse Audio - ISBN: 9783837135749
2017
Hörbuch, ungekürzte Lesung, 2 mp3-CDs, 11 Stunden 11 Minuten
2 comments

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2 comments

Andreas Pflüger 19. Januar 2018 - 20:30

Lieber Wolfgang, es hat mir Spaß gemacht, Ihre Rezension zu lesen, vielen Dank; man spürt, wie sehr Sie das Buch mögen. In einem muss ich Sie jedoch korrigieren: Es gibt deutlich mehr 10-Punkte-Listen in »Niemals« als in »Endgültig«. So kann die Wahrnehmung täuschen. Herzliche Grüße, Andreas Pflüger

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WolfgangB 22. Januar 2018 - 21:18

Zehn Punkte, die Wolfgang nachhaltig für “Niemals” von Andreas Pflüger einnehmen:
* einen Kommentar zur Rezension erhalten
* feststellen, dass der Kommentar vom Autor selbst stammt
* darüber schmunzeln können, dass die eigene Begeisterung für den Roman erkennbar ist.
* sich wundern, dass in “Niemals” tatsächlich mehr Top-Ten-Listen enthalten sind als in “Endgültig”
* mutmaßen, dass dieses Stilmittel in “Endgültig” auffallend neu war und sich in “Niemals” so nahtlos in den Text fügt, dass es wie selbstverständlich wahrgenommen wird
* Motivation verspüren, einzelne Passagen noch einmal nachzuhören
* sich dabei ertappen, die Geschichte weiterzuspinnen, neue Gegenspieler für Jenny Aaron zu ersinnen
* in der aktuellen, sehr weiblichen Ausgabe des “Büchermagazin” auf eine Erwähnung von Jenny Aaron stoßen
* sich jetzt schon auf den neuen Fall von Jenny Aaron freuen können
* Zehn-Punkte-Listen als probates Mittel empfinden, die eigenen Gedanken zu ordnen.

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