Buchtipps-To-Go #4 | Der schnelle Weg, Buchperlen zu entdecken

by Alexandra Stiller
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Immer wieder möchten wir euch, kurz und prägnant zusammengefasst, Bücher vorstellen bzw. empfehlen, die wir sehr gerne gelesen haben und die für uns zu Buchperlen wurden. Unter dem Motto #Buchtipps-to-go erfahrt ihr zu einer kleinen Auswahl an Büchern, eBooks oder Hörbüchern unseren Eindruck bzw. unser persönliches Fazit. Das können Neuheiten auf dem Buchmarkt sein, aber auch immer wieder ältere Bücher, die wir vor einiger Zeit gelesen haben. Wir möchten dies nutzen, um auch Büchern abseits der Bestsellerlisten wieder ins Gespräch zu bringen. Außerdem gibt doch noch so viel Schätze in den Backlists zu entdecken. Vielleicht werdet auch ihr fündig?!

Ich fragte mich, wie es passieren konnte, dass ich einer jener Männer im Dunkeln geworden war, die darbringen, was man ihnen abverlangt, um zu erhalten, was man ihnen nicht aus freien Stücken gibt.

Erzählt wird die Geschichte – eine Art Erfahrungsbericht – von einem namenlosen amerikanischen Lehrer, der in Sofia an einer englischsprachigen Schule arbeitet.Tatsächlich erfahren wir gar keine Namen. Bis auf einen: Mitko. Er ist der Geliebte des Erzählers. Er trifft ihn zum ersten Mal auf der öffentlichen Toilette des Kulturpalasts. Nicht zufällig, denn er ist dort auf der Suche nach Sex. Er bezahlt Mitko dafür. Die soziale Herkunft interessiert hier, an diesem speziellen Ort, nicht.

Mitko strahlt Charisma aus. Er hat etwas an sich, etwas begehrenswertes, etwas gefährliches… er zieht den Amerikaner in seinen Bann. Aber kann etwas Bestand haben, wenn die Kluft so groß erscheint, wenn Scham die Oberhand gewinnt? Ein Prozess der Entfremdung schleicht sich ein, Schritt für Schritt…

Garth Greenwells Debüt Was zu dir gehört ist sehr berührend und intensiv, offen und sehr eindringlich. Intim, aber nie aufdringlich.Ich war so gefangen von der Atmosphäre, die Emotionen überrannten mich stellenweise, ließen mich mit Herzklopfen zurück. Ich konnte das Buch einfach nicht weglegen, diese Sogwirkung war enorm.

Wie weit treibt die Sehnsucht, das Begehren? Wie abhängig macht man sich, wenn man zu sehr begehrt? Wie sehr nehmen verletzende und enttäuschende Erfahrungen in jungen Jahren Einfluss auf das spätere Leben, wie sehr prägt Zurückweisung bei der Suche nach der eigenen Identität?

Ich […] dachte nicht zum ersten Mal darüber nach, wie hilflos Begehren ausserhalb des kleinen Theaters sexueller Inbrunst doch war, wie lächerlich es wirkte, sobald es nicht erwidert wurde oder die Erwiderung gespielt war.

Ich bin sehr dankbar, dieses wahrlich großartige Buch gelesen zu haben. Wer unsicher ist, dem empfehle ich unbedingt, die Leseprobe zu nutzen, die auf der Verlagsseite zu finden ist.

Buchinfo: Was zu dir gehört | Garth Greenwell | Hanser Verlag 

 

 

Hazal Akgündüz lebt zusammen mit ihrer Familie im Berliner Wedding, ihr achtzehnter Geburtstag steht bevor. Party, Freiheit, endlich volljährig! Aber wird sich denn überhaupt etwas ändern? ihre Mutter sagt klar: „nein“ und verbietet ihr direkt die Geburtstagsparty. Einfach, weil sie ihr gerne Dinge verbietet. In der Familie dominiert eine Mischung aus Gleichgültigkeit und Kontrolle.

Hazal will nicht die ihr zugedachte Rolle der braven Tochter spielen, die schnell heiraten und Kinder bekommen soll. Sie sehnt sich nach Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, aber der Sumpf ist tief, in dem sie steckt, die Aussichten eher schlecht, ihr Wille nicht sehr stark. In ihr kocht die Wut immer öfter hoch, staut sich auf.

Wut, dass sich niemand für sie interessiert. Dass sie immer in einer Schlange stehen und mit großer Wahrscheinlichkeit abgewiesen werden. Wut auf die Klischees. Wut auf ihre Familie, ihren Bruder, auf sich selbst. Einzig Mehmed gibt ihr Kraft, eine Facebook-Bekanntschaft in Istanbul, mit dem sie regelmäßig heimlich skypt.

Ihr selbst aufgebauter Schutzwall bekommt aber Risse, immer mehr. Bis an ihrem Geburtstag plötzlich alles eskaliert und diese aufgestaute Wut die Oberhand gewinnt und ausbricht. Hazal und ihre Freundinnen bauen Mist, richtig großen Mist – und dann ist nichts mehr wie es mal war. Der Ton ändert sich, der Ort ändert sich, Hazals Leben ändert sich.

Ellbogen ist eine starke und emotionale Coming-of-Age-Geschichte darüber, wie Gewalt entsteht, was Wut anrichten kann, welche Auswirkungen Missachtung und Ausichtslosigkeit haben können. Zuletzt bleibt aber noch das Gefühl, im zweiten Teil etwas zu viel Themen auf zu wenig Seiten gepackt wurden. Trotzdem hat mich die Geschichte sehr berührt und ich möchte sie unbedingt weiterempfehlen.

Sie streckt einen Arm nach mir aus und zieht meinen Kopf hinunter auf ihren Schoß.Ich lege mich mit dem Gesicht nach oben hin. Wir schweigen. Unser Schweigen ist eins, das den Raum füllt, anstatt ihn zu leeren.

Endlich ist es mal wieder passiert! ENDLICH hat mich ein Buch wieder so gepackt bzw. gerade zu meiner Stimmung gepasst, dass ich es komplett an einem Stück durchgelesen habe. Der Rest ist Schweigen von Carla Guelfenbein hatte mich schon nach den ersten Seiten, ich blendete alles um mich herum aus.

Ich war gefangen von dieser scharfsichtigen Darstellung dessen, wie ein scheinbar intaktes Kartenhaus in sich zusammenbrechen kann. Wie etwas zerfallen kann, wenn man nur verdrängt. Wenn das negative Schweigen und innere Konflikte Brücken in der Familie einreisst. Was passiert? Es staut sich an diesen Brocken auf, bahnt sich einen Weg und wird zu einer alles berstenden Kraft, die man nicht mehr aufzuhalten vermag.

Die drei Hauptfiguren – der kleine Tommy, sein Vater Juan und seine Stiefmutter Alma – erzählen abwechselnd, immer aus ihrer Sicht. Das lässt einen tiefen Einblick zu und die unterschiedlichen Blickwinkel und Sichtweisen werden hervorgehoben. Die Ängste, die Gedanken, all das Aufgestaute im Inneren kommt ans Licht. Aber nur wir kennen das Ungesagte, nur wir blicken in die Tiefe. Das Ungesagte schwebt wie ein Damoklesschwert über der Familie.

Der am Herzen operierte Tommy findet keine Freude, wird statt dessen gemobbt. Er vertraut auf seinen imaginären Freund und liebt es, Gespräche anderer heimlich aufzunehmen. „Wörter sind manchmal wie Pfeile. Fliegen hin und her, verletzen und töten, genau wie im Krieg. Deshalb nehme ich die Gespräche der Erwachsenen gerne auf.“Doch eine Aufnahme wirft ihn aus der Bahn. Für die Ewigkeit festhalten. Seine geliebte Mutter soll Selbstmord begangen, ihn freiwillig verlassen haben. Zudem spürt er, wie sich Alma und Juan immer mehr entfremden. Das Kartenhaus bekommt Risse…

Tommys Feinsinnigkeit, seine Denkweise faszinierten mich und es ging mit wirklich sehr zu Herzen. Eine traurige Geschichte, wahrlich. Sie tut weh, aber rüttelt auch an einem und regt zum Nachdenken an.

Groß zu werden ist, als stapfte man einen Hügel hoch mit einem riesigen Schild um den Hals, auf dem steht: VERGISS. Manchmal halte ich den Atem an, damit die Zeit stehenbleibt. Ich kann doch Schritte vor und zurück machen, kann von eins bis hundert und dann von hundert runter bis eins zählen, dann begreife ich nicht, wieso die Zeit nicht auch rückwärts gehen kann, bis dahin, als Mama noch gelebt hat.

Buchinfo: Der Rest ist Schweigen | Carla Guelfenbein | S. Fischer Verlag 

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