Rezension: Hier ist es schön | Annika Scheffel

by Marcus Kufner
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Hier ist es schön

An einem Tag im August beschließt Irma, die Erde zu verlassen, ihren Eltern und Freunden für immer den Rücken zu kehren und eine Heldin zu werden. Gemeinsam mit dem rätselhaften Sam wird sie in einer spektakulären Fernsehshow dafür ausgewählt, einen neuen Planeten zu besiedeln. Doch dann entscheidet sich Sam plötzlich anders. Er, der abgeschirmt von der Welt aufwuchs, ergreift die Flucht. Er will endlich Antworten auf die Fragen nach seiner Herkunft, nach seiner Geschichte. Und so begeben sich Sam und Irma auf eine Reise – nicht ins All, sondern durch abgestorbene Wälder, lebensfeindliche Städte, entlang leerer Straßen. Sie entdecken eine kaputte Welt von surrealer Schönheit, verfolgt – oder doch gelenkt? – von Mächten, die Puppenspielern gleich im Hintergrund die Fäden ziehen. [© Text und Cover: Suhrkamp Verlag]

Der Roman beginnt ziemlich ungewöhnlich, nämlich mit einer Sammlung von Briefen. Die sind an Irma adressiert, die sich abgeschirmt von der Außenwelt auf ihre Mission ins All vorbereitet. Durch diese Briefe ihrer Eltern und Freunde kann ich mir aus verschiedenen Perspektiven ein Bild von der knapp Achtzehnjährigen machen, die bereit ist, alles dafür zu tun, ihrem Leben auf der Erde zu entfliehen.

Dass Irma nach einer alternativen Zukunft sucht, ist nachvollziehbar. Die Zeiten des gewohnten Überflusses sind nämlich längst vorbei. Die Ressourcen sind verbraucht, Lebensmittel müssen selbst angebaut werden, kaum jemand hat noch einen Job. Das dystopische Szenario, das Annika Scheffel hier entwirft, ist sehr glaubhaft, denn solange die Politik Wirtschaftsinteressen vor den Erhalt des Planeten setzt, erscheinen mir diese Folgen geradezu unvermeidbar. Kein Wunder also, dass die Bevölkerung ihre Hoffnungen in Irma und Sam setzen. Auch wenn die meisten selbst nichts davon haben, ist der Gedanke daran, dass die Menschheit in einer anderen Welt weiterexistiert, ein Trost. Dass die beiden für ihre Mission im Rahmen einer Castingshow ausgewählt werden, erscheint mir dabei zwar zunächst nicht schlüssig, es mag aber den einen oder anderen Milliardär geben, der auf diese Art sein Geld ausgeben würde.

Hier ist es schön 2

Sam ist ein spannender Charakter: er wurde als Kind am Strand angespült und von da an vom Institut betreut und erzogen. Das ist jedenfalls die offizielle Version. Er kennt fast nichts anderes als sein Zimmer und weiße Flure. Die Sichtweise, die er auf die Welt hat, als er sie kennen lernt, ist die eines kleinen Kindes – naiv und mit großen Augen staunt er über jede Kleinigkeit. Er sieht nicht den Niedergang, sondern eine für ihn schier unerträgliche Ansammlung von Wundern. Und trotzdem beginnt er sich zu fragen, ob das alles so stimmt, was ihm gesagt wurde. Mir geht es schon bald wie ihm: je mehr ich erfahre, desto weniger weiß ich. Was ist echt und was Manipulation? Von wem und warum wird ihm, den Zuschauern und mir alles Mögliche vorgegaukelt? Da bleibe ich mit einem Kopf voller Fragen zurück.

Hier draußen gibt es keine weißglänzende Decke, nur den Himmel, wolkenverhangen, ewig hoch, so gut wie endlos. So viel Platz, so viel, so viel. Sam will schreien und tanzen vor Freude, also schreit und tanzt er und streckt die Arme weit aus, reckt sie hinauf in den Himmel. (S. 68)

Annika Scheffel springt immer wieder in der Zeit zurück. Diese Struktur hält mich gut bei der Stange, vor allem die Szenen aus Sams Kindheit sind sehr spannend. Die Auswirkungen seiner besonderen „Erziehung“ auf seine Psyche sind dabei besonders interessant. Ähnlich distanziert wirkt der Schreibstil auf mich. Manchmal karg und minimalistisch ist er aber immer zielführend und passt ausgezeichnet zu der endzeitlichen Atmosphäre des Romans.

 

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Persönliches Fazit

„Hier ist es schön“ punktet bei mir mit dem atmosphärischen Endzeit-Szenario und einem besonderen Schreibstil. Dass der Roman mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet, lässt mir viel Spielraum für eigene Gedanken und Schlüsse.

© Rezension: 2018, Marcus Kufner

 

Hier ist es schön
Annika Scheffel
Roman
Suhrkamp Verlag – ISBN: 9783518427941
2018
gebunden, 389 Seiten
2 comments

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2 comments

Kerstin von KeJas-BlogBuch 9. Juli 2018 - 21:27

Hallo Marcus, danke für diese schöne Vorstellung. Das Cover ist mir als erstes ins Auge gesprungen, dann der Hinweis auf Endzeit. Der Stil scheint sehr besonders zu sein und auch diese Geschichten um Sam und Irma reizen mich enorm. Werde mir das Buch definitiv merken!
Viele Grüße
Kerstin

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Marcus vom Bücherkaffee 9. Juli 2018 - 22:58

Freut mich, liebe Kerstin, dass das Buch dein Interesse geweckt hat. Wenn dich da schon so vieles anspricht, musst du ja wirklich einen Blick riskieren.
Viele Grüße,
Marcus

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