Tore Renberg: Die Lungenschwimmprobe – Ein literarischer Zeitsprung ins barocke Sachsen

by Alexandra Stiller
...

Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde

Tore Renberg: Die Lungenschwimmprobe – Ein literarischer Zeitsprung ins barocke SachsenEine literarische Reise ins barocke Sachsen – spannend, fordernd und bewegend

Manchmal liest man ein Buch, das sich festsetzt, dessen Geschichte sich nicht nur entfaltet, sondern einen auch lange nach der letzten Seite nicht loslässt.  Die Lungenschwimmprobe von Tore Renberg ist für mich genau so ein Werk:

Renberg entführt uns ins Jahr 1681, in eine Zeit, in der die Gesellschaft noch vom Dreißigjährigen Krieg und der Pest gezeichnet ist. Die barocke Welt, die er mit viel Feingefühl und akribischer Recherchearbeit heraufbeschwört, ist eine von tiefem Aberglauben, strenger kirchlicher Macht und grausamen Gesetzen. In diesem düsteren Setting erzählt Renberg die wahre Geschichte von Anna Voigt, einer 15-jährigen Gutsbesitzertochter aus Sachsen, die des Kindsmordes beschuldigt wird.

Eine düstere Zeit voller Aberglaube und Machtkämpfe

Nach außen hin führt sie ein Leben, das den strengen gesellschaftlichen Regeln ihrer Zeit entspricht. Doch eines Tages wendet sich das Blatt dramatisch: Annas plötzlich zunehmende Leibesfülle sorgt für Getuschel und Spekulationen unter den Nachbarn und dem Gesinde des Guts. Als die neugierige Köchin und der Hauslehrer im Garten der Familie ein Neugeborenes begraben auffindet, bricht ein Sturm über das junge Mädchen herein.

Die Anklage lautet auf Kindsmord – ein Verbrechen, das in der barocken Gesellschaft nicht nur als rechtliche Verfehlung, sondern auch als schwere Sünde gegen die göttliche Ordnung angesehen wird. Anna beteuert verzweifelt ihre Unschuld und erklärt, das Kind sei schon tot zur Welt gekommen. Doch in den Augen der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit hat sie ein lebend geborenes Baby vorsätzlich getötet, um Schande und uneheliche Mutterschaft zu verbergen. Auch ihre Mutter steht unter Verdacht, von der Schwangerschaft gewusst und ihrer Tochter geholfen zu haben, das Neugeborene zu töten und im Garten zu vergraben. 

Die Konsequenzen sind grausam: Eine Verurteilung würde für Anna nicht nur den Tod bedeuten, sondern auch eine der brutalsten Hinrichtungsarten, die man sich vorstellen kann. Ein rascher Tod wird Frauen, die des Kindsmordes überführt wurden, meist nicht vergönnt. Stattdessen drohen Folter und öffentlicher Spott – eine Strafe, die vor allem die vermeintliche Sünde der Frau in den Mittelpunkt stellt. 

Annas Schicksal: Zwischen Schuld und Unschuld

In einer Zeit, in der religiöser Eifer und patriarchale Macht die Oberhand haben, scheint Annas Schicksal besiegelt. Doch es gibt einen Lichtblick: Der Leipziger Jurist Christian Thomasius, ein aufstrebender Verfechter der Aufklärung und der spätere Mitbegründer der Universität von Halle, nimmt sich ihres Falls an und stellt sich gegen die kirchlichen und konservativen Kräfte, die Anna bereits als schuldig abgestempelt haben.

Die (hoffentlich) entscheidende Wendung bringt zudem der Stadtphysicus von Zeitz, Johannes Schreyer, der ein damals revolutionäres Verfahren einsetzt: die sogenannte Lungenschwimmprobe. Dabei wird untersucht, ob die Lunge des toten Kindes Luft enthält. Schwimmt sie im Wasser, gilt das als Beweis dafür, dass das Kind nach der Geburt geatmet und somit gelebt hat. Geht sie unter, ist das ein Hinweis darauf, dass das Kind bereits tot geboren wurde.

Dieses Verfahren, das heute als Meilenstein der Rechtsmedizin gilt, wird zur Schlüsselfrage in Annas Verteidigung. Doch selbst der wissenschaftliche Beweis steht im Spannungsfeld von Fortschritt und Aberglauben, denn er Klerus und die konservative Gesellschaft wollen Annas Schuld bestätigt sehen. Wird es Thomasius und Schreyer dennoch gelingen, die junge Anna vor dem Scharfrichter und dem sicheren Tod zu bewahren? 

Ein bewegendes Porträt der Zeit

Renbergs Erzählung ist weit mehr als die Rekonstruktion eines historischen Gerichtsverfahrens. Er wirft einen tiefen Blick auf die Mechanismen, die Frauen wie Anna in patriarchalen Strukturen hilflos zurückließen. Die junge Frau wird zur Projektionsfläche für eine Gesellschaft, die Frauenkörper und ihre Autonomie radikal kontrollierte.

Was Die Lungenschwimmprobe für mich besonders macht, ist vor allem die Vielschichtigkeit der Erzählung. Renberg beschränkt sich nicht auf Anna Voigts Geschichte, sondern verwebt die Perspektiven zahlreicher Nebenfiguren: von ihrem Verteidiger Christian Thomasius, einem Vordenker der Frühaufklärung, über den Leipziger Scharfrichter Christoph Heintze bis hin zu Annas Vater, der eine zentrale Rolle im späteren Verlauf der Handlung spielt. Und was mir auch sehr gefallen hat: Renberg lässt auch immer wieder seine eigenen Gedanken während des Schreibprozesses bzw. der Recherche mit einfliessen. 

Diese ständige Wechsel der Erzählperspektive und der langsame, fast meditative Rhythmus des Romans herausfordernd, aber genau diese Komplexität macht den Roman in meinen Augen so faszinierend. Man taucht nicht nur in die Geschichte einer jungen Frau ein, sondern in die ganze Welt des barocken Sachsens – eine Welt voller Widersprüche, in der sich Altes und Neues, Aberglaube und Wissenschaft, Brutalität und Mitgefühl begegnen.

Ein literarisches Highlight

Tore Renberg ist mit seinem ersten historischen Roman ein Meisterwerk gelungen, das Geschichte lebendig macht. Die Lungenschwimmprobe ist nicht nur eine packende Geschichte, sondern auch ein vielschichtiges Porträt einer Epoche, die an der Schwelle zur Moderne steht.

Es ist ein Buch, das fordert, das Zeit und Aufmerksamkeit verlangt – und das es wert ist, gelesen zu werden. Wer sich auf Renbergs Erzählung einlässt, wird nicht nur eine tragische und bewegende Geschichte erleben, sondern auch viel über die Anfänge der Rechtsmedizin, die Macht des Klerus und die ersten Schritte der Aufklärung lernen. Für mich zählt Die Lungenschwimmprobe zu meinen Lese-Highlights 2024, das mich nachhaltig beeindruckt hat, und ich kann es wirklich mit großer Begeisterung weiterempfehlen. Sehr #lesenswert! 


2024, Alexandra Stiller
Transparenzhinweis: Buch selbstgekauft

Erschienen bei Luchterhand. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger und Karoline Hippe

Die Lungenschwimmprobe
Tore Renberg | Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger, Karoline Hippe
Historischer Roman
Luchterhand Verlag | ISBN: 978-3-630-87777-8
2024
Hardcover mit Schutzumschlag
704 Seiten
www.penuin.de

0 comment

Lust zum stöbern und entdecken?

Schreibe uns Deine Meinung