Wie lebt man eine Liebe, die ein Leben lang währt?
Wie bleibt man sich nahe, trotz der Dramen, Krisen und Enttäuschungen, die sich über Jahrzehnte ansammeln? In ihrem berührenden Roman Bevor wir uns vergessen nimmt Eliette Abécassis uns mit auf eine einzigartige Reise durch das Leben und die Liebe von Alice und Jules. Auf kunstvolle Weise erzählt sie die Geschichte eines Paares, das über 60 Jahre miteinander verbracht hat – und das rückwärts.
Wie haben wir es geschafft, uns in schwierigen Situationen zu ertragen und nach so vielen Jahren nicht voreinander zu fliehen? Wie macht man weiter, wenn man alt wird? Man gibt sich einander hin, man gefällt einander und begehrt sich gegenseitig, man betrügt sich und bereut es, man liebt sich und man hasst sich … (S. 46)
Ein rückwärts erzähltes Leben
Im Jardin du Luxembourg in Paris treffen wir 2022 auf Alice und Jules. Sie sind beide über 85 Jahre alt, gebrechlich und müde. Ihre Gedanken scheinen in der Vergangenheit verloren, die gemeinsamen Erinnerungen verblassen immer mehr. Von diesem Punkt aus beginnt Éliette Abécassis, ihre gemeinsame Geschichte zu entrollen – zurück bis zu den ersten Momenten ihrer Liebe. Der Roman führt uns durch die Jahrzehnte, entlang der Wendepunkte ihrer Beziehung, die ihr Leben prägten.
Historische Meilensteine wie der 11. September 2001, der Fall der Berliner Mauer, die Wahl von François Mitterrand, die Studentenbewegung 1968 oder der Algerienkrieg ziehen wie eine Hintergrundkulisse vorbei. Diese Momente spiegeln auf subtile Weise die Stimmung innerhalb der Ehe wider. Die politischen Umbrüche und gesellschaftlichen Veränderungen wirken wie ein Echo der inneren Konflikte und Veränderungen von Alice und Jules. Es entsteht das Bild einer Ehe, die von Höhen und Tiefen geprägt ist: glückliche Zeiten, Krisen, Untreue, Desillusion und die immerwährende Suche nach dem Gleichgewicht.
Der Brief, der alles verbindet
Ein zentrales Motiv des Romans ist ein Liebesbrief, den Jules zu Beginn ihrer Beziehung an Alice schrieb. Dieser Brief zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte und wird erst am Ende – oder vielmehr am Anfang – vollständig enthüllt. Er ist ein Symbol für die Essenz ihrer Liebe, die selbst in den dunkelsten Zeiten Bestand hatte. Die Enthüllung des Briefes lässt den Kreis der Erzählung auf wundersame Weise schließen und zeigt, dass die Liebe vielleicht immer da war, auch wenn sie immer wieder von Routine, Schmerz und Alltag verdeckt wurde.
Dieser Aufbau ist nicht nur literarisch innovativ, sondern auch tief bewegend. Als Leser*in kann man den Roman sogar rückwärts lesen – vom Ende hin zu den Anfängen – und entdeckt dabei, wie die schönen, schmerzhaften und banalen Momente einer langen Beziehung ineinandergreifen.
Liebe im Wandel der Zeit
Éliette Abécassis zeigt auf feinühlige Weise, wie sich die Liebe über Jahrzehnte hinweg wandelt. Die anfängliche Leidenschaft und die großen Träume machen Platz für eine tiefergehende Verbindung, die jedoch immer wieder von Zweifeln, Entfremdung und Untreue bedroht wird. Gleichzeitig zeigt sie, dass die Liebe auch in kleinen, unscheinbaren Gesten fortbesteht – im gegenseitigen Respekt, in der Geduld und im Verstehen der Schwächen des anderen.
Besonders beeindruckend ist, wie die Autorin die Herausforderungen des Alterns einfängt. Alice und Jules sind am Ende ihres Lebens angekommen, ihre Körper müde, ihre Erinnerungen verblassend. Doch in den Rückblicken wird deutlich, dass die Liebe trotz allem geblieben ist. Sie liegt wie ein (manchmal tief) verborgener Schatz unter den Schichten des Alltags und der Jahre.
Éliette Abécassis schreibt voller Tiefe und Emotion
Bevor wir uns vergessen ist ein Roman über das Altern, das Bereuen und die Sehnsucht nach mehr. Aber es ist auch ein Roman über das, was bleibt. Éliette Abécassis schreibt mit einer subtilen Eleganz und erschafft Charaktere, die tief berühren.
Worauf können wir noch hoffen? Bleibt das Begehren, wenn die Liebe stirbt? Vergeht die Liebe, wenn das Begehren verblasst, oder erblüht sie gerade dann – befreit vom schönen Schein, von der körperlichen Hülle, die uns irreführt? (S. 47)
Dieser Roman ist mehr als nur eine Liebesgeschichte. Er ist eine Reflexion darüber, was es bedeutet, ein Leben mit jemandem zu teilen. Es ist die Geschichte von Alice und Jules, aber auch die Geschichte von uns allen, die lieben, scheitern und immer wieder versuchen, das Beste daraus zu machen.
Fazit
Bevor wir uns vergessen von ist ein leiser, aber intensiver Roman, der zeigt, dass die wahre Magie der Liebe in ihrer Beständigkeit liegt. Éliette Abécassis’ rückwärts erzählte Geschichte und der Liebesbrief, der alles zusammenhält, machen dieses Buch zu einem unvergleichlichen Leseerlebnis. Sie lädt dazu ein, die eigene Beziehung neu zu betrachten, die Schönheit im Unperfekten zu erkennen. Sehr lesenswert!
2025, Alexandra Stiller
Transparenzhinweis: Das Buch ist ein Rezensionsexemplar
Erschienen im Arche Verlag. Aus dem Französischen übersetzt von Kirsten Gleinig
Literatur
Arche Verlag | ISBN 978-3-7160-0013-7
2024
gebundene Ausgabe
176 Seiten
