Was passiert mit uns, wenn wir wütend sind?
Unsere Gedanken rasen, drehen sich im Kreis, jagen uns durch den Kopf – und manchmal schlagen sie ein wie Kometen, hinterlassen tiefe Krater und verändern alles. Genau wie diese Kometen treffen auch die Bücher von Linn Strømsborg mitten ins Herz. Sie rütteln auf, sprengen gewohnte Denkmuster und hinterlassen bleibende Eindrücke.
Ich war schon von Linn Strømsborgs Roman Nie, nie, nie sehr angetan, in dem die Erzählerin sich dazu entschlossen hat, keine Kinder zu bekommen – und wie sich diese Entscheidung auf die Beziehung zu Partner, Freunden und Familie auswirkt.
In Verdammt wütend beschäftigt sich die Autorin mit der Gedankenwelt einer Frau, die an den unsichtbaren Fesseln ihrer gesellschaftlichen Rolle zu scheitern droht. Mit schonungsloser Ehrlichkeit beschreibt Strømsborg die weibliche Wut – ein Gefühl, das oft kleingeredet, unterdrückt oder als unangemessen abgestempelt wird. Doch die Autorin zeigt, dass gerade diese Wut das Potenzial hat, etwas Neues und Befreiendes hervorzubringen.
Linn Strømsborg schreibt über die Last der Erwartungen
Im Zentrum der Geschichte steht Britt, 43 Jahre alt, Mutter von Elise und Ehefrau von Espen, der längst zu einer distanzierten Konstante in ihrem Leben geworden ist. Gemeinsam mit ihrer Familie und den Freunden ihres Mannes verbringt sie, wie jedes Jahr, den Sommer in einem Ferienhaus am Meer. Doch von Erholung kann keine Rede sein. Die Last der unausgesprochenen Erwartungen und die scheinbare Selbstverständlichkeit, mit der Britt stets die Verantwortung trägt, haben sich über die Jahre wie ein unsichtbares Netz um sie gelegt, das sie innerlich immer wütender macht.
Frau zu sein bedeutet, als Hure bezeichnet zu werden, wenn du mit zu vielen Leuten schläfst, Frau zu sein bedeutet, sexy genug zu sein, dass alle mit dir schlafen wollen, Frau zu sein bedeutet, getötet zu werden, wenn du nicht stillhältst und die Klappe hältst, Frau zu sein bedeutet, die Klappe zu halten, wenn du eigentlich schreien möchtest. Frau zu sein bedeutet, reiss dich zusammen.
Und dann entlädt sich die angestaute Wut – wie ein Komet, der mit ungebremster Wucht einschlägt. Britt schreit. Laut und ohne Rücksicht auf Verluste. Sie schreit gegen ihren Mann, ihre Tochter, die Freunde und gegen das Leben, das sie sich selbst so lange hat auferlegen lassen. Dieser Ausbruch ist der Wendepunkt, der sich lange abgezeichnet hat.
Zwischen Verantwortung und Befreiung
Nach ihrem Wutausbruch verlässt Britt das Haus, springt ins Meer und lässt sich treiben – im wahrsten Sinne des Wortes. Dieser Moment der Abkehr wird zur Zäsur. Gemeinsam mit Nico, einer Freundin von Espen, die sie eigentlich nicht besonders leiden kann, begibt sie sich spontan auf einen Roadtrip. Nico verkörpert all das, wonach sich Britt sehnt: Freiheit und Unabhängigkeit. Sie fahren gar nicht weit, doch schon diese kurze Distanz reicht aus, um Klarheit in Britts rasende Gedanken zu bringen.
Leben im Ferienhaus: Wie es ohne Britt weitergeht
Während Britt mit Nico auf ihrer Suche nach Freiheit unterwegs ist, bleibt das Leben im Ferienhaus nicht stehen. Strømsborg baut gekonnt Passagen ein, in denen die Perspektiven der Zurückgebliebenen erzählt werden. Und es ist, wie es immer ist: Eine der anderen Frauen übernimmt selbstverständlich Britts Aufgaben. Sie macht das Abendessen, räumt das Chaos des Tages auf und kümmert sich um Elise.
Diese Szenen wirken beiläufig, doch genau darin liegt ihre Stärke. Sie zeigen, wie schnell die Care-Arbeit, die Britt jahrelang allein geschultert hat, von einer anderen Frau übernommen wird – ohne dass jemand fragt, ob sie das überhaupt möchte. Strømsborg zeichnet damit ein scharfes Bild der gesellschaftlichen Erwartungen, die Frauen oft stillschweigend erfüllen, während Männer sich herausnehmen, abzuwarten.
Wut als Motor für Veränderung
Strømsborg gelingt es, Wut nicht als destruktive Kraft darzustellen, sondern als Motor für Veränderung. Sie zeigt, wie wichtig es ist, sich den eigenen Gefühlen zu stellen, die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen und starre Rollenmuster zu hinterfragen. Gleichzeitig beleuchtet sie fragmentarisch die Herausforderungen, die Mutterschaft, Care-Arbeit und die unsichtbare Last des Mental Load mit sich bringen.
Ein Aufruf zur Selbstbestimmung
„Verdammt wütend“ von Linn Strømsborg ist mehr als ein Roman über weibliche Wut. Es ist ein Appell, sich selbst Gehör zu verschaffen, Grenzen zu ziehen und festgefahrene Strukturen zu durchbrechen. Britt erkennt, dass sie nicht länger nur die Frau, Mutter oder Ehefrau sein möchte, die sie zu sein glaubt. Sie möchte herausfinden, wer sie jenseits dieser Rollen ist – und diesen Weg geht sie mit aller Konsequenz.
Die Autorin schafft es, Britts inneren Monolog so eindringlich und ehrlich zu erzählen, dass man unweigerlich mitfühlt – und vielleicht sogar den Mut fasst, die eigenen Bedürfnisse klarer zu sehen. „Verdammt wütend“ ist ein Buch, das aufrüttelt, bewegt und zum Nachdenken anregt. Absolut lesenswert!
2024, Alexandra Stiller
Transparenzhinweis: Das Buch ist ein Rezensionsexemplar
Erschienen im Dumont Buchverlag. Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe
Roman
Dumont Buchverlag | ISBN: 978-3-8321-6843-8
2024
Gebunden mit Schutzumschlag
224 Seiten
www.dumont-buchverlag.de
