Zwischen Schweigen und Sehnsucht: Marie Auberts neuer Roman „Eigentlich bin ich nicht so

by Alexandra Stiller
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Marie Aubert - Eigentlich bin ich nicht so

Auf unserer Reise nach Norwegen lernten wir in Oslo die Autorin Marie Aubert kennen. In einem Gespräch in der Nationalbibliothek gab sie uns einen kurzen Einblick in ihren Roman Eigentlich bin ich nicht so und berichtete über den Schreibprozess und ihre Inspiration für diese Geschichte. Für mich war das eine wunderbare Ergänzung, denn ich hatte das Buch erst kurz zuvor beendet und machte mir noch viele Gedanken darüber.

Ein fein komponiertes Kammerspiel

Marie Auberts Roman spielt in einem engen Zeitrahmen: Drei Tage in einem kleinen norwegischen Dorf. Ein vermeintlich fröhliches Familientreffen dreier Generationen wird dabei schnell zur emotionalen Zerreißprobe. Was als Feier zur Konfirmation der jungen Linnea beginnt, entwickelt sich zu einem Kammerspiel voller unausgesprochener Konflikte und aufbrechender Wunden.

Wenn die Vergangenheit nicht loslässt

Aubert erzählt die Geschichte multiperspektivisch aus der Sicht von vier Figuren, die alle auf ihre Weise mit der Vergangenheit und sich selbst hadern – tief im Inneren sind sie einsamer, als es zunächst scheint. Es sind zutiefst menschliche und oft alltägliche Probleme, die sie mit sich tragen und die über die Zeit hinweg zu einer schweren Belastung werden können, wenn man nicht weiss, wie man sie loslassen kann.

Linnea, die Hauptperson des Wochenendes, wirkt rastlos und innerlich zerrissen – ihre einzige Freundin hat sich von ihr abgewendet, und die Zurückweisung nagt an ihr. Es gibt niemanden, mit dem sie über ihre Sorgen und inneren Kämpfe sprechen kann, also frisst sie alles in sich hinein und verschließt sich immer mehr.

Ihre Tante Hanne, die mittlerweile in Oslo lebt, kommt mit großen Erwartungen zurück in ihre Heimat. Doch statt der erhofften Triumphgefühle breitet sich schnell alte Wut in ihr aus. Die Erinnerungen an ihre Jugendzeit, als sie nur „die Dicke“ war, lassen sie nicht los.

Bård, Linneas Vater, will vor allem eines: ein besseres Familienleben führen als sein eigener Vater. Doch auch er trägt ein schweres Geheimnis mit sich herum. Schon seit einiger Zeit hat er eine Affäre. Im Stillen sucht er nach dem richtigen Moment, um seine Familie zu verlassen und noch einmal von vorne zu beginnen.

Dann ist da noch Großvater Nils, der nur das Beste für alle will. Doch bald muss er erkennen, dass gute Absichten allein oft nicht ausreichen.

Marie Aubert schreibt über Sehnsucht, Selbstbild und das Schweigen

Auberts präzise Beobachtungsgabe zeigt sich besonders in den Dialogen und Zwischentönen. Mit messerscharfer Sprache und feiner Ironie entlarvt sie die Abgründe alltäglicher Gespräche. Vermeintlich harmlose Bemerkungen treffen ins Mark, und so mancher Blick sagt mehr als tausend Worte. Die Nähe und Harmonie, die sich alle eigentlich bei einem Familientreffen wünschen, wird plötzlich zur Bedrohung.

Marie Aubert skizziert die Dynamik dieser Familie mit beeindruckender Leichtigkeit, ohne dabei die emotionale Tiefe zu scheuen. Während sich alle nach außen hin um Normalität bemühen, sind ihre Gedanken ganz woanders, und alte Wunden reißen wieder auf. Nicht verarbeitete Konflikte, die tief vergraben schienen, tauchen plötzlich wieder an der Oberfläche auf. Jede Figur will gesehen werden, aber ohne zu viel Nähe zuzulassen – denn gleichzeitig haben sie Angst davor, wie sie von den anderen wahrgenommen werden.

Unaufgeregt, aber eindringlich

Eigentlich bin ich nicht so von Marie Aubert ist ein Roman, der sich scheinbar unspektakulär entfaltet, aber doch nachhaltig wirkt. Er bietet uns viel Stoff zum Nachdenken über zwischenmenschliches Verhalten und die oft fehlende Kommunikation in Familien.

Der Roman hält nicht nur den Protagonistinnen, sondern auch uns Leserinnen den Spiegel vor. Er konfrontiert uns mit den Fragen: Wie sehen uns andere? Und wie sehen wir uns eigentlich selbst? Warum denken wir schlecht über andere? Warum sind wir im Geheimen neidisch und missgünstig? Warum sehen wir uns selbst so oft als Opfer? – Eigentlich sind wir doch gar nicht so! Oder etwa doch?

Die Geschichte ist ein fein komponiertes Kammerspiel voller leiser Tragik, aber auch überraschend humorvoll – ein Balanceakt, den Aubert gekonnt meistert. Ich hätte mir tatsächlich noch ein paar Seiten mehr gewünscht.

 


2025, Alexandra Stiller
Transparenzhinweis: Das Buch ist ein Rezensionsexemplar 

Erschienen im Rowohlt Verlag. Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein und Stefan Pluschkat

 

Eigentlich bin ich nicht so
Marie Aubert | Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein und Stefan Pluschkat
Roman
Rowohlt Verlag | ISBN 978-3-498-00288-6
2024
Hardcover mit Schutzumschlag
208 Seiten
www.rowohlt.de

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