„Für immer“ von Maja Lunde – Ein Gedankenexperiment über Stillstand und Vergänglichkeit

by Alexandra Stiller
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Was wäre, wenn niemand mehr stirbt?

Unsterblichkeit – ein ewiger Menschheitstraum. Doch was, wenn dieser Traum plötzlich zur Realität wird? Wenn einfach so von Hier auf Jetzt der Pausenknopf für uns Menschen gedrückt wird? Die norwegische Bestsellerautorin Maja Lunde greift in ihrem neuen Roman *Für immer* genau diese Fragen auf und spinnt ein interessantes Gedankenexperiment: 

An einem gewöhnlichen Tag Anfang Juni kommt die Zeit zum Stillstand. Niemand stirbt, niemand wird mehr geboren. Während die Menschen mit dieser neuen Realität ringen, bleibt die Natur unbeirrt: Jahreszeiten wechseln, Pflanzen wachsen, Tiere werden geboren und sterben. Was passiert, wenn der natürliche Kreislauf unterbrochen wird? Ist das ein Geschenk oder eine Strafe?

Die Entstehung der Idee

Wir haben Maja Lunde in Oslo im Munch Museum getroffen, wo sie uns Einblicke in die Entstehungsgeschichte ihres neuesten Werkes gab. Diese Idee zu *Für immer* kam ihr bereits 2015 während einer Lesereise für ihren Roman *Die Geschichte der Bienen*. Auf der Heimfahrt von einer Veranstaltung reflektierte sie über das Leben, den Tod und die Frage, ob Unsterblichkeit wirklich erstrebenswert ist. Was, wenn nichts mehr zu Ende geht, der Kreislauf des Lebens einfach unterbrochen wird? Diese Überlegungen ließen sie nicht mehr los – der Grundstein für ihren neuen, diesmal vollkommen fiktionalen Roman war gelegt.

Wer ist Maja Lunde?

Maja Lunde, geboren 1975 in Oslo, ist eine renommierte Drehbuch- sowie Kinder- und Jugendbuchautorin. Ihr erster Roman für Erwachsene, *Die Geschichte der Bienen*, wurde ein weltweiter Bestseller und stand monatelang auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Mit *Die Geschichte des Wassers*, *Die Letzten ihrer Art* und *Der Traum von einem Baum* schloss sie 2023 ihr literarisches Klimaquartett ab. Gemeinsam mit der Illustratorin Lisa Aisato veröffentlichte sie zudem erfolgreiche All-Age-Bücher wie *Die Schneeschwester* und *Die Sonnenwächterin*.

Ein Stillstand, der alles verändert

Im Zentrum von *Für immer* stehen mehrere Protagonist*innen, die sich mit dem plötzlichen Stillstand des Lebens auseinandersetzen müssen.

Jenny, eine Fotografin und zweifache Mutter, hat gerade erst erfahren, dass sie unheilbar an Krebs erkrankt ist. Die Diagnose ist für sie ein Schock, doch noch schwerer wiegt die Sorge um ihre Kinder. Wie werden sie ohne sie aufwachsen? Wie werden die Kinder sie im Gedächtnis behalten? Die Kamera wird für Jenny zu einem Anker. Sie beginnt, den Stillstand in Bildern festzuhalten.

Ellen arbeitet unter der Woche in einem Bestattungsinstitut, wo der Tod für sie zum beruflichen Alltag gehört. Doch in ihrer Freizeit sucht sie das extreme Gegenteil: Sie ist Basejumperin, gemeinsam mit Philip sucht sie den ultimativen Adrenalinkick. Der Stillstand trifft sie unerwartet – plötzlich ist der Tod keine Option mehr, das Risiko verliert seinen Reiz.

Otto und Margo – ein älteres Ehepaar, das vor einer großen Veränderung steht. Ihr Haus mit dem liebevoll gepflegten Garten wird zu groß für sie, ein Umzug in eine kleinere Wohnung steht bevor. Während Margo sich auf einen Neuanfang freut, leidet Otto unter der Vorstellung, seinen Garten aufgeben zu müssen. Der Stillstand verstärkt Ottos Gefühl des Verlusts. Während Margo sich arrangiert, klammert er sich an die Vergangenheit.

Jakob und Lisa erwarten ihr erstes Kind, ein neues Leben, das sie mit Vorfreude erfüllt. Jakob dokumentiert jede Entwicklung des Babys, recherchiert besessen über das Wachstum im Mutterleib. Doch dann kommt der 6. Juni – der Tag des Stillstands. Ihr ungeborenes Kind wächst nicht mehr weiter, es bleibt für immer in einem ungewissen Zustand gefangen.

Die unterschiedlichen Perspektiven der Figuren

Maja Lunde verwebt die Geschichten ihrer Protagonist*innen geschickt miteinander. Während einige die Unsterblichkeit feiern, erleben andere sie als Qual. Während Margo feiert, dass sie nicht mehr älter wird und nun endlich reisen möchte, fühlen sich Lisa und Jakob hilflos, weil ihr ungeborenes Baby nicht mehr weiter wächst. Besonders eindrücklich ist jedoch Jennys Perspektive: Ihre Kamera wird zum Werkzeug, die stillstehende Zeit einzufangen. Ein bewegendes Zitat zeigt ihre Gedankenwelt:

Sie wollte alles einfangen, selbst die Krümel, selbst die Schatten, die sie auf das Holz des Tisches warfen, denn das war ihr Leben, dieser Frühstückstisch, die Spuren dieser Mahlzeit. Und das Entscheidende war, sie in der Zeit zu verankern, genau in diesem Moment.

Während sie sich zuvor mit der Frage beschäftigte, wie ihre Kinder ohne sie weiterleben würden, wird nun eine ganz neue Frage aufgeworfen: Was bedeutet Zeit, wenn sie nicht mehr vergeht?

Maja Lunde nutzt das Gedankenexperiment als Spiegel unserer modernen Gesellschaft. Wir rennen in unserem Leben der Zeit hinterher – alles ist nach ihr getaktet und meist haben wir zu wenig davon. Die Uhr bestimmt unser Leben in allen Facetten – und plötzlich ist diese Uhr, ist die Zeit nicht mehr relevant. Sie lädt uns ein, über unsere eigene Vergänglichkeit und den Umgang mit der uns gegebenen Zeit nachzudenken. Nutzen wir diese denn weise? Welche Bedeutung hat sie für uns?

Verschwörungstheorien und mythologische Erklärungen

Nach der anfänglichen Euphorie über die gewonnene Zeit schleichen sich Skepsis, Unbehagen, Verunsicherung und zuletzt auch Verzweiflung ein. Die Menschen müssen sich mit der neuen Realität auseinandersetzen – einer Existenz ohne Anfang und Ende. Doch mit der Zeit weicht die Unsicherheit einer tiefen Langeweile, die schließlich in eine Sehnsucht nach der alten Vergänglichkeit umschlägt. Die Frage nach dem Warum wird immer drängender. Parallelen zur Corona-Pandemie sind unverkennbar: Während einige versuchen, rationale Erklärungen zu finden, greifen andere auf Verschwörungstheorien zurück.

Maja Lunde hatte in ihren früheren Werken die Folgen des Klimawandels mit individuellen Schicksalen verknüpft, doch diesmal bewegt sie sich vollständig im Bereich der Fiktion. Dennoch bleibt die zentrale Botschaft bestehen: Das menschliche Handeln hat Konsequenzen. Denn während die Zeit für die Menschen stillsteht, geht das Leben in der Natur ungebremst weiter. Der Wechsel der Jahreszeiten bleibt unverändert, Tiere sterben und werden geboren – die Erde existiert unabhängig vom Menschen.

Wir vermehren und verbreiten uns, wir beuten die Natur aus und lassen weder den anderen Arten noch unseren eigenen Nachkommen etwas übrig. Indem die Menschheit jetzt zum Stillstand kommt, werden wir außer Gefecht gesetzt.

Schwächen zum Ende hin

*Für immer* ist ein Roman, der existenzielle Fragen aufwirft und zum Nachdenken über unser Verhältnis zur Zeit anregt. Maja Lunde zeigt eindrucksvoll, wie unterschiedlich Menschen mit lebensverändernden Situationen umgehen. Trotz der fesselnden Thematik und der tiefgründigen Fragen verliert der Roman aber um Ende hin an Klarheit und das dramatische Finale passt nicht ganz zur Erzählweise des restlichen Buches.

Mir persönlich fiel es schwer, der Auflösung und dem Ende vollständig zu folgen. Die letzten Kapitel wirkten auf mich überstürzt und ließen mich mit zu vielen offenen Fragen zurück. Während der Roman mich bis dahin mit seiner klugen Beobachtungsgabe hinsichtlich der Protagonist*innen überzeugt hat, fehlte mir am Schluss eine konsequente Aufarbeitung der Ereignisse. Maja Lunde überlässt es uns Leser*innen, ihren gewollten Kniff zu verstehen. Es fühlte sich für mich aber an, als hätte ich etwas überlesen oder einen entscheidenden Hinweis verpasst – ein Gefühl, das mich etwas unbefriedigt zurückgelassen hat.

 


2025, Alexandra Stiller
Transparenzhinweis: Das Buch ist ein Rezensionsexemplar, dass mir im Zuge einer Pressereise nach Norwegen zugesendet wurde.

Erschienen im btbVerlag. Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein 

Für immer
Maja Lunde | Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein
Roman
btb Verlag | ISBN 978-3-442-76278-1
15.01.2025
Hardcover, mit Schutzumschlag
320 Seiten
www.penguin.de
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