Norwegen ist das Gastland der Leipziger Buchmesse 2025 (27. bis 30. März) und präsentiert unter dem Motto „Traum im Frühling“ seine vielfältige Literaturszene. Der Frühling symbolisiert dabei Neubeginn und Veränderung – Themen, die auch in der norwegischen Literatur eine zentrale Rolle spielen. Im Vorfeld der Messe reiste ich mit anderen Kulturschaffenden nach Oslo und Bergen, um mehr über die norwegische Literatur zu erfahren, Autor*innen zu treffen und einen authentischen Eindruck von Land und Kultur zu gewinnen. Über unsere Erlebnisse in Oslo habe ich bereits in einem früheren Beitrag berichtet. ( >> Zum Blogpost über Oslo)
Weiterreise nach Bergen: Das Herz der Fjorde
Nach zwei schönen Tagen in Oslo reisten wir frühmorgens weiter in das Herz der Fjorde – in die Hansestadt Bergen. Norwegens zweitgrößte Stadt war früher der Sitz eines Hansekontors und ist heute ein historischer Küstenort in Fjord-Norwegen. Umgeben von sieben Bergen und berühmten Fjorden wie dem Sognefjord und dem Hardangerfjord bietet Bergen eine beeindruckende Kulisse.
Empfang zur Eröffnung des Bergen International Literary Festival
Unsere Reise nach Bergen hatte einen besonderen Grund: Vom 5. bis 9. Februar 2025 fand dort das Bergen International Literary Festival (LitFestBergen) statt. Direkt nach unserer Ankunft durften wir einem feierlichen Empfang zur offiziellen Festivaleröffnung beiwohnen. Die Bürgermeisterin von Bergen, Marit Warncke, begrüßte die Gäste und betonte in ihrer Rede die Bedeutung der Literatur für den kulturellen Austausch – sowohl in Norwegen als auch international.
An ihrer Seite sprach auch die Direktorin des Festivals, Teresa Grøtan, über das diesjährige Leitthema „TRUTH“ und stellte die Frage, ob es naiv sei, in der heutigen Welt nach Wahrheit zu suchen. In ihrer Eröffnungsrede sagte sie:
Is it naive to search for truth in the world today? Is it naive because we have different frames of reference? Is it naive because it has become easy to manipulate the truth, to edit, to hide, to deny the truth – not least – because it has become fashionable to lie? Because lying has become a performative sport on the world scene, with cheering crowds, not for the truth, but for the best told lie?
Is searching naive because truth is impossible to reach?
Standing here, I have the privilege of answering this question, and my answer is no. It is not naive. It is more important than ever. It is more important than ever.
This truth is not relative: The number of hostages. The number of prisoners. The number of dead.“
„But there is also another truth. That, which erupts violently like a volcano, with afterquakes that keep shaking you long after you thought it was over. Or, heavy like uranium, old as the rain. The truth you will never utter aloud. A truth that is intimately connected to what it means for you to be you or what it means for me to be me in the world.
No two minds are alike. We don’t see things as they are – we see them as we are. We predict what to expect and we construct the reality accordingly – we construct our truth, so to say.
You are the master of your own listening, of your own reasoning. You are the master of your truth.
Diese eindrucksvollen Worte gaben den Auftakt zu einem Festival, das sich intensiv mit den verschiedenen Facetten von Wahrheit auseinandersetzte – sowohl in der Literatur als auch in der Gesellschaft.
Die Håkonshalle – Ein geschichtsträchtiger Ort

Bürgermeisterin von Bergen, Marit Warncke
Die Håkonshalle, in der der Empfang stattfand, ist eines der bedeutendsten mittelalterlichen Gebäude Norwegens. Sie wurde im 13. Jahrhundert unter König Håkon IV. errichtet und war einst Schauplatz prächtiger Feste und königlicher Zeremonien. Heute gehört sie zum Bergenhus-Festungskomplex und wird für besondere Veranstaltungen genutzt.
Ein Festival im Zeichen der Wahrheit
Das Bergen International Literary Festival wurde erstmals 2019 ins Leben gerufen und hat sich seitdem zu einem bedeutenden Ereignis in der literarischen Welt entwickelt. Ziel des Festivals ist es, hochwertige Sach- und Belletristik aus aller Welt zu präsentieren und so das Verständnis für unsere Welt und die Rolle der Menschheit darin zu vertiefen. Charakteristisch für das Festival sind seine literarische, sprachliche, kulturelle und geografische Vielfalt. Es strebt danach, mutig und innovativ zu sein, dabei jedoch gleichzeitig einem breiten Publikum zugänglich zu bleiben.
In diesem Jahr stand das Festival unter dem Leitthema TRUTH. Rund 100 Autorinnen und Künstlerinnen aus 22 verschiedenen Nationen traten im Literaturhaus und an weiteren Veranstaltungsorten in ganz Bergen auf und setzten sich mit diesem zentralen Thema auseinander. Festivaldirektorin Teresa Grøtan betonte, dass das Festival in diesem Jahr besonders unsere Zeit widerspiegle, in der Fragen nach Wahrheit und Realität eine große Rolle spielen.
Zwei bemerkenswerte Veranstaltungen
Am Donnerstag besuchten wir abends noch zwei Veranstaltungen im Rahmen des Bergen International Literary Festivals:
Marjam Idriss & Kathrine Nedrejord: Ghosts in Norwegian Colonial History
Diese Veranstaltung beleuchtete die Perspektiven von Autor*innen mit Migrationshintergrund auf Norwegens koloniale Vergangenheit. Marjam Idriss präsentierte ihren preisgekrönten Roman Halvt (Half), in dem die Protagonistin Inge, Tochter einer Mutter von der Karibikinsel St. Croix, beruflich nach Karibik reist. Ihre Begegnung mit der Insel ruft Erinnerungen an Kolonisation und Sklaverei hervor. Kathrine Nedrejord sprach über ihr Buch Sameproblemet (The Sámi Problem), das sich mit der Identität und den Erfahrungen der indigenen Sámi-Bevölkerung auseinandersetzt und die Auswirkungen der kolonialen Vergangenheit aufzeigt. Festivaldirektorin Teresa Grøtan moderierte die Diskussion, die auf Norwegisch stattfand und simultan ins Englische übersetzt wurde.
Johan Harstad: Under brosteinen, stranden!
Johan Harstad stellte seinen Roman Under brosteinen, stranden! (Unter dem Pflasterliegt der Strand) vor, dessen Titel an den Pariser Studentenaufstand von 1968 erinnert. Das Buch erzählt die Geschichte des Erwachsenwerdens in Forus bei Stavanger in den 1980er und 1990er Jahren und enthält Elemente wie unorthodoxe Spionage, Ökoterrorismus und Fragen zur Entropie. Harstad diskutierte mit Literaturkritiker und Doktoranden Johannes Grytnes über den Roman, die Zeit und die unendlichen Möglichkeiten des Werks. Auch diese Veranstaltung wurde auf Norwegisch mit englischer Simultanübersetzung angeboten.
Beide Veranstaltungen boten tiefgreifende Einblicke in Norwegens literarische Auseinandersetzung mit seiner Geschichte und Identität.

Kathrine Nedrejord und Johan Harstad
Vorab hatten wir bereits die Gelegenheit, die beiden Autor*innen Kathrine Nedrejord und Johan Harstad persönlich in der Buchhandlung Norli Strandgaten zu treffen, einer der bekanntesten Buchhandlungen in Bergen, die nicht nur eine umfangreiche Auswahl an Literatur bietet, sondern auch ein Treffpunkt für die lokale Literaturszene ist.
Literarische Entdeckungstour: In den Fußstapfen von Jon Fosse
Am nächsten Tag begaben wir uns auf eine ganz besondere literarische Entdeckungstour – „In the Footsteps of Jon Fosse“.
Jon Fosse, der norwegische Schriftsteller und Nobelpreisträger, ist ein ehemaliger Bewohner von Bergen, und seine Werke sind tief in der Stadt verwurzelt. Es war faszinierend, durch die Straßen und Gassen zu laufen, die einst Fosse inspirierten und die als Kulissen für viele seiner Werke dienen. Die Literaturkritikerin und Übersetzerin Margunn Vikingstad führte uns auf dieser literarischen Reise. Sie nahm uns mit zu den Orten in Bergen, die Fosse geprägt haben und an denen die Atmosphäre seiner Literatur noch immer spürbar ist. Dabei las sie auch kurze Abschnitte aus Fosses Werken vor.

Literaturkritikerin und Übersetzerin Margunn Vikingstad
Abschluss der Reise: Gespräche mit Frode Grytten und Pedro Carmona Alvarez
Am letzten Abend in Bergen hatten wir noch einmal das Vergnügen, mit zwei weiteren herausragenden Autoren zusammenzutreffen: Frode Grytten und Pedro Carmona Alvarez. Beide gaben uns einen exklusiven Einblick in ihre Werke, die Ende dieses Jahres beziehungsweise Anfang nächsten Jahres ins Deutsche übersetzt werden. Beide Buchvorstellungen interessierten mich sehr und ich werde dazu definitiv noch einmal separat berichten, sobald ihre Werke bei uns erscheinen.

Pedro Carmona Alvarez und Frode Grytten
Eine bereichernde Zeit in Bergen
Unsere Zeit in Bergen war nicht nur literarisch bereichernd, sondern bot auch die Möglichkeit, die reiche Geschichte und Kultur der Stadt zu erleben. Die Kombination aus beeindruckender Naturkulisse, geschichtsträchtigen Orten und der lebendigen Literaturszene machte diesen Teil unserer Reise zu einem Erlebnis. Ein herzlicher Dank geht an NORLA − Norwegian Literature Abroad und Literaturtest für die Einladung, die großartige Organisation und die Möglichkeit, mit so vielen beeindruckenden Autor*innen ins Gespräch zu kommen.
Mit all den Eindrücken aus Oslo und Bergen im Gepäck freue ich mich nun umso mehr auf die Leipziger Buchmesse 2025 und den Auftritt des Gastlandes Norwegen. Es wird eine wunderbare Gelegenheit, noch tiefere Einblicke in die Vielfalt der norwegischen Literatur zu gewinnen und die großartigen Autor*innen, die uns auf dieser Reise begleitet haben, auch in Leipzig zu erleben. So viel spannende und bedeutende Literatur erwartet uns – sehen wir uns in Leipzig?
2025, Alexandra Stiller
Transparenzhinweis: Dieser Beitrag entstand im Zuge einer Pressereise nach Norwegen, zu der ich eingeladen wurde. Der Text spiegelt meine persönlichen Eindrücke wider.
Impressionen aus Bergen: