Eine Hymne auf die Erde – gesehen aus der Schwerelosigkeit
16 Sonnenaufgänge. 16 Sonnenuntergänge.
400 Kilometer über der Erde. 27.000 km pro Stunde. Ein einziger Tag in der Umlaufbahn.
Zeit verliert Form. Gedanken gewinnen Gewicht. Oben im Orbit wird die Menschheit zur Fiktion – und die Erde zum leuchtenden Spiegel.
Sechzehn Mal am Tag gleiten sie im Rhythmus der Umlaufbahn über Meere, Küstenlinien, Gebirge und Städte hinweg. Sechs Astronaut:innen – vier Männer, zwei Frauen – bewegen sich durch die Enge ihrer Raumstation, während sich draußen die unendliche Weite des Alls erstreckt. Samantha Harvey nimmt uns in ihrem Roman Umlaufbahnen mit auf eine literarische Reise, die weniger von Handlung als von Perspektive getragen wird. Sie lässt uns die Erde aus einer Entfernung sehen, die sowohl Ehrfurcht als auch Fragilität offenbart.
Ein Blick von oben – nah und fern zugleich
Harvey beschreibt die Erde, wie sie sich aus der Umlaufbahn darbietet: grün schimmernde Inseln, gleißende Gletscher, sich auftürmende Wolkenformationen, die wie gemalte Kulissen wirken. Mal sind es bedrohliche Naturschauspiele wie ein sich zusammenbrauender Taifun, mal winzige Details wie zum Beispiel die Lichter von Fischerbooten vor Malaysia, die das Team berühren, aber auch ängstigen. Mit jeder Umrundung sehen sie, wie der Taifun bedrohlicher wird und doch sind sie machtlos. Sie können nichts weiter tun, als Fotomaterial davon zur Erde zu senden, während dort unten das Unheil seinen Lauf nimmt.
Sie hängen ihren Gedanken nach und so entwickelt sich der Roman zu einer vielstimmigen Sammlung von Fragmenten über Leben, Vergänglichkeit und Zusammenhalt.
Leben im All zwischen Weite und Enge
Harvey widmet sich mit spürbarer Faszination den vielen Details eines Lebens auf der Raumstation: der ständige Platzmangel, dem Essen von Nudeln ohne Schwerkraft, dem Entsorgen von Zahnpastaresten oder dem Nächtigen in speziellen Schlafsäcken, die an den Wänden und Decken befestigt werden, damit die Astronaut:innen im schwebenden Zustand schlafen können, ohne herumzutreiben.
Der Körper verändert sich, muss permanent fit gehalten, der Geist trainiert werden. Sie machen sich ständig Notizen, welche Tageszeit jetzt gerade auf der Erde wäre, um irgendwie die Relation zu behalten. Gerade in diesen Szenen wird deutlich, dass das Außergewöhnliche schnell einen alltäglichen Charakter bekommt und dass selbst in der Schwerelosigkeit irgendwann Routinen entstehen. Doch nie erlischt der Zauber: Jeder Blick nach draußen konfrontiert die Besatzung mit der Schönheit und auch Verletzlichkeit des blauen Planeten.
Der Roman lebt von Gegensätzen: von der klaustrophobisch wirkenden Enge der Raumstation und der grenzenlosen Weite des Universums, von der Schönheit des Planeten und der Bedrohung durch Naturkatastrophen, von Glaubensfragen und naturwissenschaftlichen Perspektiven. Während draußen das All wie eine „radioaktive Suppe“ lauert, sind die Astronaut:innen gleichzeitig Beobachter:innen und Forschende.
Poetisch, fragend, berührend
Harveys Sprache ist vielschichtig: mal poetisch und fast ekstatisch, mal nüchtern und präzise. Dabei stellt sie die ganz großen Fragen: Was bedeutet es, Mensch zu sein? Wie lässt sich das Leben auf der Erde begreifen, wenn man sie aus einer solchen Distanz betrachtet? Gibt es einen Gott? “Umlaufbahnen” ist kein Roman für schnelle Spannung, sondern ein Buch voller gedanklicher Fragmente zum Innehalten und Nachdenken. Samantha Harvey gelingt es, die Schwerelosigkeit erfahrbar zu machen – literarisch und existenziell. Sehr lesenswert!
„Umlaufbahnen“ – aus dem Englischen übersetzt von Julia Wolf – wurde ausgezeichnet mit dem Booker Prize 2024 und dem Hawthornden Prize for Literature 2024 und war nominiert für den Orwell Prize for Political Fiction 2024, den Ursula K. Le Guin Prize 2024 sowie für den Preis der Leipziger Buchmesse 2025 in der Kategorie Übersetzung.
Erschienen ist das Buch im dtv Verlag, dies ist die Ausgabe der Büchergilde.
2025, Alexandra Stiller
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