Rezension: Gedenke mein | Inge Löhnig

by Wolfgang Brandner
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Gina Angelucci, die Partnerin des Münchner Kommissars Dühnfort, arbeitet in der Abteilung für Cold Cases in München: Sie löst Mordfälle, die seit Jahren nicht geklärt werden konnten. Auf die Bitte einer Mutter nimmt sie die Ermittlungen zu einem tragischen Fall wieder auf. Vor zehn Jahren verschwand die kleine Marie. Ihre Leiche wurde nie gefunden. Der Vater von Marie hat Selbstmord begangen. Hat er seiner Tochter etwas angetan? Gina ahnt, dass ihre Kollegen damals die falschen Fragen stellten. Warum sollte der Vater das Mädchen töten? Oder ist Marie noch am Leben? Gina folgt einer Spur, die zu unendlichem Leid führt … [Text + Cover: © Ullstein Verlag]

Ein “Spin Off” erleichtert neuen Lesern den Einstieg

Was macht eine Autorin, wenn die Hauptfigur ihrer Serie schon so viele Erlebnisse und Erinnerungen angehäuft hat, daß man neuen Lesern nur mehr raten kann, beim ersten Band zu beginnen und sich bis zum aktuellen durchzuarbeiten? Eine Möglichkeit besteht darin, eine gänzlich neue Serie zu beginnen. Eine andere ist ein sogenanntes “Spin Off”, die Wahl einer neuen Hauptfigur aus dem Kreis der bereits bekannten. Kommissar Konstantin Dühnfort dürfte seiner geistigen Mutter (verständlicherweise) derart ans Herz gewachsen sein, daß sie sich für zweitere Variante entschieden und seine Verlobte Gina Angelucci zur Heldin einer neuen Serie erkoren hat. Auf diese Weise erleichtert die gewiefte Autorin neuen Lesern den Einstieg und muß sich doch nicht gänzlich von Dühnfort trennen.

Gina wird als eine lebensfrohe junge Dame vorgestellt, die bei der Münchener Kriminalpolizei in der Abteilung für Cold Cases arbeitet und deren Angewohnheit es ist, in exakten Personenbeschreibungen zu denken, ein weiterer Kunstgriff der Autorin. Indem nämlich Ginas analytischer Geist zuverlässig Alter, Größe, Gewicht und Kleidung ihres Gegenübers registriert, wird dem Leser unmittelbar ein präzises Bild einer neuen Figur vermittelt, ohne, daß die Verfaserin in die gefährliche Falle ausufernder Deskriptivität tappt.

Um dem Leser nun die neue Hauptfigur rasch ans Herz zu legen, wird deren Privatleben umfang- und detailreich ausgestaltet. Die Hochzeit mit Konstantin “Tino” Dühnfort steht unmittelbar bevor, demzufolge darf der Leser Gina beim Aussuchen der Hochzeitstorte und Einladungen, bei pränatalen Untersuchungen aber auch bei der Massage und in Boutiquen begleiten. Außerdem versucht sie zum Wohl ihres ungeborenen Kindes ihre (sympathische) Schwäche für Kaffee im Zaum zu halten.

Die Handlung ist zur Zeit der Entstehung des Romans angesiedelt, also am Ende des Jahres 2015, während das aufzuklärende Verbrechen, der Mord an einem kleinen Mädchen namens Marie, bereits 2005 verübt wurde. Demzufolge kann Gina Angelucci bei ihren Nachforschungen weder auf die Aufnahmen heute allgegenwärtiger Videoüberwachung noch auf die Beobachtungen mitteilungsbedürftiger Zeitgenossen, die alle Aspekte ihres Lebens in Sozialen Netzwerken dokumentieren, zurückgreifen. Somit verbleibt die mühsame Aufgabe, die weit aufklaffenden Lücken der damals angefertigten Polizeiprotokolle mit altmodischer Detektivarbeit – Zeugenbefragungen, Lokalaugenschein und das gute alte Schlußfolgern – aufzufüllen. Allerdings ist Gina durchaus versiert im Umgang mit den technischen Hilfsmitteln, die im Jahr 2015 das Leben erleichtern. Werkzeuge wie Google Maps und WhatsApp dienen außerdem dazu, den zeitlichen Rahmen des Romans weiträumig abzustecken. Eine viel engere Eingrenzung bieten die immer wieder eingestreuten Zeitungs- und Fernsehberichte über die Flüchtlingsproblematik. So sehr Randbedingungen wie diese dem Roman auch eine dokumentarische Note verleihen, ihn authentisch gestalten, so sehr ist er damit auch dem Risiko ausgesetzt, durch aktuelle Entwicklungen auf der Weltbühne ungewollt aus der Zeit gefallen zu wirken.

Charakteristisch für Inge Löhnig ist die Beschäftigung mit jeweils einem drängenden gesellschaftlich relevanten Thema.

Waren es zuletzt etwa Mobbing im Internet (“Verflucht seist du”) oder die Gefahr der städtischen Vereinsamung alter Menschen (“Deiner Seele Grab”), so widmet sie sich nun jener besonderen Grausamkeit, die zuletzt durch die Fälle Fritzl und Priklopil die Öffentlichkeit beschäftigte. In “Gedenke Mein” sieht sich Gina Angelucci bald mit der Möglichkeit konfrontiert, daß das 2005 verschwundene Mädchen nicht ermordet sondern entführt und in Gefangenschaft gehalten worden sein könnte. Ein bereits einschlägig Polizeibekannter wird als möglicher Verdächtiger rasch ausgeforscht, und hier konfrontiert die Autorin sowohl Figuren und Leser mit einem Dilemma: Inwieweit haben verurteilte Pädophile ihre Bürgerrechte verwirkt? Inwieweit darf man im Umgang mit ihnen das Recht zu seinen Gunsten beugen, wenn deren Schuld in einem aktuellen Fall zwar nicht erwiesen, aber auch nicht unwahrscheinlich ist? Inwieweit ist es zulässig, einen solchen Menschen einem Volkszorn auszusetzen, der sich selbst als gerechtfertigt empfindet? Und schließlich: Unter welchen Umständen darf man das “Der Zweck heiligt die Mittel”-Prinzip anwenden? Die Autorin leuchtet sorgfältig die rechtlichen und ethischen Grauzonen aus, bezieht den Leser immer wieder in die schwierigen Entscheidungen mit ein.

In der Beschäftigung mit diesem aufwühlenden Thema wirkt die Autorin jedoch zu zögerlich, als scheue sie selbst davor zurück. Den Ausgangspunkt des Romans bildet ein sogenannter “Cold Case”, ein weit in der Vergangenheit liegendes, nicht aufgeklärtes Verbrechen. Um der Mutter der kleinen Marie endlich Ruhe zu verschaffen, soll deren Leiche aufgespürt werden. Die Natur des Falles impliziert also noch keinerlei Druck für die Ermittler. Neue Erkenntnisse lassen jedoch befürchten, daß der wahre Mörder noch auf freiem Fuß ist und nun alarmiert werden könnte … was die Situation mit einem Schlag ändert und jede Sekunde kostbar macht. Schließlich gelangt Gina zu der Überzeugung, es mit einem pädophilen Kindesenführer zu tun zu haben, der sein Opfer in jahrelanger Gefangenschaft quält.

Das lange Raten, wer aus einer Gruppe möglicher Verdächtiger der wahre Täter sein könnte, ist essentieller Bestandteil eines wohlkonstruierten Krimis. Je geschickter der Verfasser seine Geschichte konstruiert, desto länger kann er das befrieidigende Aha-Erlebnis hinauszögern, ohne gleichzeitig den Rahmen zu verlassen. Der mehrmalige Wechsel des diesem Fall zugrundeliegenden Verbrechens sprengt jedoch diesen Rahmen, geht weit über die erwartete Irreführung von Figuren und Lesern hinaus. Die Handlungsführung als ganzes wirkt somit nicht stimmig, sondern unentschlossen.

Zudem läßt das Ende des Romans einen angemessenen Abschluß vermissen. Dem Leser wird kaum die Zeit eingeräumt, die katastrophale Komplexität der jahrelangen Tortur eines Kindes mit ihren weitreichenden Konsequenzen zu erahnen. Der erzählerische Zuckerguß wirkt deplaziert, er erzeugt eine Diskrepanz, die dem Verbrechen auf seine Schärfe nimmt, ja einen gefährlich verharmlosenden Eindruck entstehen läßt. Hier ist beinahe so etwas wie ein System zu beobachten: Je härter, tiefgehender, brutaler der Fall wird, desto mehr wirken die Ausflüge ins Privatleben der Hauptfigur wie eine Flucht Inge Löhnigs, die über den Verlauf der Handlung selbst erschrickt.

 

Persönliches Fazit

“Gedenke Mein” beschreitet einen holprigen Weg aus der Komfortzone eines gemütlichen Krimis ohne Zeitdruck in die rauhe Witterung eines komplexen Verbrechens – wo die Autorin sich merklich nicht mehr wohlfühlt.

© Rezension, 2016 Wolfgang Brandner

 

Gedenke Mein
Inge Löhnig
Kriminalroman
Ullstein Verlag - ISBN: 9783548612287
2016
broschiert, 400 Seiten
1 comment

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1 comment

little edition 11. März 2016 - 11:13

Das Zitat auf dem ersten Bild kann ich gleich unterschreiben. Bücher und Bücherregale sind was Feines und während ich da so drüber sinniere, kommt mir eine Idee…

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