Aufgelesen 22 | Und … bedarf es nicht mehr?

by Wolfgang Brandner
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Wie jedes Jahr in den Sommermonaten haben sich auch heuer wieder die Straßen, Brücken und Promenaden Salzburgs mit Schaulustigen und Kulturhungrigen gefüllt, gleicht die Innenstadt um Mozarts Geburtshaus mehr denn je einem Freilichtmuseum und schallt abends der ehrfurchtgebietende “Jedermann”-Ruf über den Domplatz, einem barocken “Memento mori” gleich. Es herrscht wieder Festspielzeit … und einer weiteren Tradition folgend, wurde auch heuer wieder die Eröffnungsrede von einem prominenten Vertreter des Geistes- und Kulturlebens bestritten.
Bestritten im wahrsten Sinne des Wortes, denn mit akademischem Furor wetterte da der österreichische Kulturphilosoph Konrad Paul Liessmann von der Kanzel.

“Wir leben in bewegten Zeiten”

konstatierte er gleich zu Beginn das Offensichtliche, um zur provokanten Frage überzuleiten, ob es angesichts allgegenwärtiger Krisen noch angemessen ist, sich “dem Genuß eines rauschenden Festes” hinzugeben. Beispielhaft verwies er auf Theordor Adorno, der im Sommer des Jahres 1967 einen Vortrag über Goethe halten sollte, wo kurz zuvor der Student Benno Ohnesorg während einer Demonstration erschossen worden war. Adorno wurde aufgefordert, nicht über den Dichterfürsten, sondern die aktuellen politischen Entwicklungen zu sprechen und Partei für die Aufbegehrenden zu ergreifen. Der Philosoph weigerte sich, strich stattdessen die politische Dimension in Goethes “Iphigenie” hervor. Damit sollte er recht behalten, wie leicht wäre er wohl sonst von der RAF instrumentalisiert worden. Bewegte Zeiten seien also keineswegs ein Spezifikum unserer Tage, so Liessmann, der ein Gedicht Georg Friedrich Hölderlins ins Zentrum seiner Rede stellt … entstanden in den Tagen der Napoleonischen Kriege.

Wie viel Bildung braucht die Kunst, wie viel Kunst braucht die Bildung?

Copyrightangabe: SN/Neumayr

Einmal mehr bezog sich der Festredner auf den Zweck der Kunst, ihre Aufgabe innerhalb der Gesellschaft, ihre Funktion an der Seite der Politik. Wird der Wert der Kunst am Grad ihrer Verwertbarkeit bemessen? Liessmann konstatierte die schwindende Rolle der Kunst in der Bildung und warf auf: “Wie viel Bildung braucht die Kunst, wie viel Kunst braucht die Bildung?” Dem pädagogischen System, dem die Kinder überantwortet werden, diagnostizierte er “Kompetenzorientierung” und “Output-Optimierung”. Zu seinem Herzensanliegen, der Kunst zurückkehrend, schloß er mit dem strahlenden Zentrum aus Hölderlins “Ode an die Parzen”, der zugleich seinen roten Faden darstellte:

“Und mehr bedarfs nicht.”

Konrad Paul Liessmann wußte dabei zahlreiche Verantwortungsträger und einflußreiche Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Medien und Unterhaltung vor sich. Er präsentierte jenen, in deren Macht es steht, Veränderungen anzustoßen, ein – wenn auch kulturpessimistisch geprägtes – Bild des kollektiven Geisteszustandes. Sein Vortrag war zugleich auch eine Anklage der Passivität. Ein “Warum macht ihr es nicht besser?” hing da implizit in der Luft, eine Verwunderung über die Kurzsichtigkeit schickte er mit seinen Worten in den Saal.
Und wußte zugleich, daß er bestenfallls ein geduldeter Sonntagsredner war. Einer, der die obligate Funktion des Stachels im Fleisch des renommierten Kulturfestivals erfüllen soll, einer, dessen Worte man über sich ergehen läßt, um sich die Köstlichkeiten am Buffet zu verdienen.
Bereits in seinem 2008 erschienenen Essayband “Theorie der Unbildung” prangert Konrad Paul Liessmann den Bildungsbegriff unserer Gesellschaft an. Anhand der beliebten Quizshow “Wer wird Millionär” bezeichnet er diesen als “Erscheinungsform der Unbildung” (S. 17) und verortet die Ursache ihres Erfolges in dem Umstand, daß sie mit “jedem Bildungsdünkel radikal Schluß macht.” Alle möglichen Wissensgebiete stünden gleichberechtigt nebeneinander, kurzlebige Geschichten aus der Klatschpresse nähmen denselben Stellenwert wie Fragen nach Goethes Faust ein, und keinem Kandidaten sei es bisher eingefallen, eine Frage aufgrund mangelnder Relevanz zurückzuweisen. Das Schlagwort, das allerorts herumgeistert, ist jenes der “Wissensgesellschaft”. Daß jede beliebige Information jederzeit verfügbar ist, mag zur trivialen Plattitüde geworden sein, die Frage nach dem richtigen Umgang mit dieser Informationsflut ist keineswegs trivial. Nicht nur der österreichische Kultur (und Vorzeige-)philosoph, auch der Verfasser dieser Zeilen begibt sich zuweilen auf die Suche nach dem Begriff des Allgemeinwissens. Was kann als grundlegender intellektueller Konsens einer Gesellschaft festgelegt werden, was kann dem Begriff “Bildung” als Fundament dienen? Anders gefragt: Über welche Kenntnisse sollt ein Absolvent der Pflichtschule zumindest verfügen?

Beim Lesen, Schreiben und Rechnen – also den elementaren Kulturtechniken – mögen wir uns noch einig sein…
Tatsächlich?

Bestrebungen, die Handschrift von den Lehrplänen zu nehmen und die Grundrechenarten an Maschinen zu delegieren, relativieren diese Einigkeit schon wieder. Und sollten nicht auch schon die Bedienung eines Comupters, sogar rudimentäre Programmierkenntnisse zum intellektuellen Rüstzeug gehören? Ist es überhaupt noch zeitgemäß, tote Sprachen zu unterrichten, oder sollte man die entsprechende Zeit nicht durch eine tägliche Turnstunde ersetzen? Ist es noch relevant, das auslösende Moment des Dreißigjährigen Krieges zu kennen, den Satz von Thales, das Wissen um die Photosynthese? Bemißt sich der Wert dieses Wissens ohnehin nur an den Prämien in Quizshows, und können etwaige Lücken nicht ohnehin in Sekundenschnelle durch Wikipedia geschlossen werden? Ist Religionsunterricht überhaupt noch zeitgemäß, sollte er nicht längst durch das Fach “Ethik” ersetzt werden?
Die Details mögen volatil sein und der Notwendigkeit der Zeit unterworfen, am Grundsätzlichen der Bildung will Konrad Paul Liessmann jedoch nicht rütteln. Bildung sieht er als “Menschwerdung des Menschen”, die dafür auf Kunst und Wissenschaft angewiesen ist, die laut Friedrich Schiller “edelsten Werkzeuge des Menschen.”
© Kolumne: 2016, Wolfgang Brandner

Literatur:

Zsolnay, Wien 2006, ISBN 978-3-552-05382-3
(2.-6. Aufl. 2006, 7. -15. Aufl. 2007, 17. Aufl. 2008; Taschenbuchausgabe (Piper) 2008)

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