Rezension: Mama sagt, dass selbst die Vögel nicht mehr singen. | Myriam Rawick

by Marcus Kufner
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Myriam ist knapp sieben Jahre, lebt mit ihren Eltern in Aleppo, liebt das Gewimmel auf dem Basar und die Gerüche des Jabel-Saydé-Viertels, wo sie und andere armenische Christen wohnen. Als im September 2011 die Unruhen ausbrechen, rät die Mutter ihr, ein Tagebuch zu führen, um den Schrecken zu bannen. Erschüttert hält Myriam fest, wie ihre Welt in Terror und Angst zusammenbricht, sie von einem Viertel ins nächste ziehen müssen, Cousins sterben oder entführt werden. Nur selten kann sie dem Terror ringsum ein kurzes kindliches Glück abtrotzen. Doch sie und ihre Familie halten unverbrüchlich zusammen und überleben mit Glück und Geschick das unfassbare Leid. [© Text und Cover: Blessing Verlag]

Wenn ich mich mit einem Tagebuch aus dem kriegsgebeutelten Aleppo beschäftigte, weiß ich, dass das emotional werden wird. Ich will aber mehr erfahren, als das, was in den Nachrichten berichtet wird. Wie ist das Leben der Menschen vor Ort in diesen schwer vorstellbaren Umständen? Myriam Rawick bietet mit ihrem Buch eine besondere Perspektive: die eines Kindes.

Myriam ist in dem Zeitraum, in dem sie das Tagebuch schreibt, zwischen sieben und dreizehn Jahre alt. Eine prägende Zeit für ein Kind. Viel davon wird durch Gewalt, durch Schüsse und Bomben und durch dein Tod bestimmt. Anfangs sind es nur Proteste auf den Straßen, aber bald schon wird daraus ein bewaffneter Konflikt. Myriam kann nicht sagen, wer auf wen schießt oder warum überhaupt gekämpft wird. Sie wird von ihren Eltern auch nicht darüber informiert, kann das Geschehen aber so oder so gar nicht begreifen. Wieso werden wir bombardiert? Was haben wir falsch gemacht? Fragen, auf die sie keine Antwort bekommt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich bin erstaunt, wie die Familie versucht, ihren Alltag trotz der Umstände weiterzuführen. Dass Myriam noch zur Schule gehen kann oder dass ihr Vater noch seinen Laden betreiben kann, hätte ich nicht für möglich gehalten. Besonders durch die Entbehrungen, die immer schlimmer werden: oft fällt der Strom aus oder es gibt kein Trinkwasser. Die Preise schießen in die Höhe, für Brot muss man stundenlang anstehen. Es wird immer schwieriger, ein Essen auf den Tisch zu bringen. Ich wundere mich, dass sie nicht fliehen. Aber so einfach wird das nicht sein, schließlich hat die Familie hier in der Stadt ihre Lebensgrundlage. Wovon sollten sie außerhalb leben? Eine schwierige Lage.

„Heute früh sind wir in unsere Wohnung zurückgekehrt. Auf unserer Etage erwartete uns die Nachbarin und erzählte, dass eine Rakete direkt nebenan eingeschlagen sei. Gut, dass wir gestern bei Jedo und Teta geblieben sind. Ich bin mir sicher, dass Gott uns das Leben gerettet hat.” (S. 135)

Durch die Tagebuchform sind die Kapitel kurz, meist nicht länger als eine halbe Seite. Manchmal ist zwischen den Eintragungen nur ein Tag, dann wieder mehrere Wochen. Aus diesen vielen Fragmenten kann ich mir aber ein Bild davon machen, was es bedeutet, im Zentrum des syrischen Kriegs zu leben. Trotz oder gerade wegen der schlichten, kindlichen Sprache hat mich Myriams Bericht sehr bewegt. So sollten Kinder nicht leben müssen!

 

 

 

Persönliches Fazit

Myriam Rawick hat mir mit ihrem Tagebuch beeindruckende Einblicke ihr Leben gegeben. Ich kann mir jetzt annähernd vorstellen, was ständige Gewalt und Angst für ein Kind bedeuten. Ein erschütterndes und bewegendes Plädoyer gegen den Krieg in Syrien und gegen Krieg generell.

© Rezension: 2018, Marcus Kufner

 

Mama sagt, dass selbst die Vögel nicht mehr singen. Mein Tagebuch Aleppo 2011-2017
Myriam Rawick (Aus dem Französischen von Pauline Kurbasik)
Sachbuch
Blessing Verlag, ISBN: 9783896676221
2018
gebunden, 178 Seiten
2 comments

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2 comments

Evelin Brigitte Blauensteiner 21. August 2018 - 14:40

Eindrucksvoll. Gut, dass es mal eine andere (emotionale, persönliche) Sichtweise gibt – als die alltäglichen Nachrichten. Evelin Brigitte Blauensteiner

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Marcus vom Bücherkaffee 22. August 2018 - 8:08

Stimmt, und die Perspektive eines Kindes ist auch nochmal eine ganz besondere.
Viele Grüße,
Marcus

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