Lügen über meine Mutter: Patriarchalische Strukturen der 80er Jahre im Roman von Daniela Dröscher

by Alexandra Stiller
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Lügen über meine Mutter: Patriarchalische Strukturen der 80er Jahre im Roman von Daniela DröscherNostalgie der Achtziger: Ein Blick durch die rosarote Brille?

Die 80er Jahre sind für viele von uns eine Ära, die wir mit einem nostalgischen Lächeln und warmen Erinnerungen verbinden. Es genügt oft schon der erste Takt eines alten Songs, um uns zurück in diese Zeit zu versetzen. Doch wie viel von dieser Nostalgie ist echt? Wie viel haben wir verdrängt oder durch eine vermeintlich rosarote Brille betrachtet?

Als ich den Roman „Lügen über meine Mutter“ von Daniela Dröscher las, wurde mir bewusst, wie geschickt wir manchmal die weniger schönen Seiten der Vergangenheit ausblenden. Dröscher entfernt diesen nostalgischen Filter und bietet uns einen ungeschönten Blick auf die patriarchalische Strukturen der 80er Jahre – eine Realität, die viele von uns möglicherweise verdrängt haben.

Eine Reise in den Hunsrück

Der Roman entführt uns in ein kleines Dorf im Hunsrück, wo die junge Ela, gerade einmal sechs Jahre alt, inmitten kleinbürgerlicher und patriarchalischer Strukturen aufwächst. Ihre Welt wird geprägt von den gesellschaftlichen Zwängen der Ära Kohl, die nicht nur das Leben der Erwachsenen, sondern auch ihre kindlichen Ansichten beeinflussen.

Ela erlebt die Spannungen und Konflikte in ihrer Familie hautnah. Besonders die Beziehung ihrer Eltern steht im Mittelpunkt – eine Beziehung, die von Vorwürfen, Scham und Demütigungen geprägt ist. Der Vater, unsicher in seiner bürgerlichen Rolle, richtet seine Frustration immer wieder auf die Mutter. Diese wird aufgrund ihres vermeintlichen Übergewichts nicht nur verbal, sondern auch psychisch attackiert.

Die beiden stritten fast täglich, genauer gesagt stritt er, meine Mutter wehrte sich nur. Meist begann der Streit am Abend, wenn mein Vater aus dem Büro kam und sich darüber beklagte, dass er seine Frau ‚zu dick‘ fand. Heute hatte er schon beim Frühstück damit angefangen.

Patriarchalische Strukturen der 80er Jahre

Die Mutter wird in dem Roman als eine Frau dargestellt, die sich mit aller Kraft gegen die gesellschaftlichen Erwartungen wehrt. Sie will sich den Schönheitsidealen nicht beugen, auch wenn das Patriarchat sie immer wieder in die Knie zwingt. Sie nimmt sich den Raum, den die Gesellschaft ihr verweigern möchte, und versucht, ihrer missglückten Ehe zu entkommen, indem sie manchmal die Wahrheit zurechtbiegt.

Lange hatte sie unsichtbar in der Kammer geruht, jetzt thronte die fürchterliche gläserne Waage im Badezimmer neben dem Korb für die Schmutzwäsche. Jeden Samstagmorgen musste meine Mutter pünktlich vor seinen Augen ihr Gewicht kontrollieren. Anschließend trug mein Vater die Zahlen in ein dafür vorgesehenes Notizbuch ein.

Die Mutter wird von der Gesellschaft und ihrem Mann unter Druck gesetzt, sich einem bestimmten Schönheitsideal anzupassen. Ihr Kampf gegen diese Zwänge ist ein zentrales Thema des Romans, das eindrucksvoll die Auswirkungen patriarchalischer Strukturen auf das Leben von Frauen aufzeigt.

Der alltägliche Kampf um Anerkennung

Der Roman zeigt eindringlich, wie die Ehe der Eltern immer mehr in eine groteske und furchtbare Richtung läuft. Ela wird Zeugin dieser Dynamik, die nicht nur ihre Familie, sondern auch ihr gesamtes soziales Umfeld betrifft. Sie lernt den gesellschaftlich vorgegebenen Blick, doch das Hinterfragen fällt ihr schwer in einer Welt, die von fest verankerten sozialen Strukturen geprägt ist.

Ich konnte jede noch so kleine Regung im Gesicht meines Vaters entziffern. Sein Gesicht war unser Wetter. Er ließ sich in einer Ecke des Tisches auf den Stuhl fallen und schaute meine Mutter düster an. Die Beförderung könne er sich abschminken, das sei ihm heute klar geworden. Ein Mann ohne eine vorzeigbare Frau würde eine solche gehobene Stellung niemals bekommen.

Ein Roman, der aufrüttelt

„Lügen über meine Mutter“ ist ein beeindruckender und augenöffnender Roman, der das Leben einer Frau erzählt, die stellvertretend für viele andere Frauen ihrer Zeit steht. Er thematisiert den Druck, dem Frauen durch patriarchalische Strukturen der 80er Jahre ausgesetzt sind, ohne sie dabei bloßzustellen.

Dieser Roman ist nicht nur lesenswert, sondern auch ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der oft idealisierten Vergangenheit. Er fordert uns auf, unseren Blick auf die 80er Jahre zu schärfen und auch die dunklen Seiten dieser Ära nicht zu vergessen.


2024, Alexandra Stiller
Transparenz: das E-Book wurde selbst gekauft 

 

Lügen über meine Mutter
Daniela Dröscher
Roman
Verlag Kiepenheuer & Witsch | ISBN: 978-3-462-30368-1
18.08.2022
E-Book
448 Seiten
www.kiwi-verlag.de

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