… platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne.
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Saša Stanišićs “Proberaum fürs Leben”
Nach seinem Roman “Herkunft” (der 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde) und zwischenzeitlich mehreren ganz wunderbaren Kinderbüchern meldet sich Saša Stanišić mit “Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne” zurück. Dieses Buch, das schon durch seinen mehr als auffälligen (und vor allem zungenbrecherischen) Titel besticht, ist ein ungewöhnlicher Erzählband mit zwölf einzigartigen und doch auf verschiedenen Ebenen miteinander verwobener Geschichten. So einzigartig und unterschiedlich sie auch sind, haben sie aber immer eine Gemeinsamkeit: sie zeigen uns eine mögliche, aber bisher nicht eingetretene Version der Realität.
Saša Stanišićs “Proberaum fürs Leben”
“Wie super wäre es”, fuhr er fort, “wenn es einen Proberaum für das Leben gäbe? Du gehst in den rein und probierst zehn Minuten aus der Zukunft? Wie bei Deichmann, nur nicht mit Schuhen, sondern mit dem Schicksal. Kostenpunkt: hundertdreißig Mark.
Falls dir dann gefällt, was du siehst, kannst du es direkt einloggen und dich gleich drauf freuen, weil diese zehn Minuten, die werden hundertpro irgendwann kommen.
Das Einloggen kostet hundertdreißigtausend Mark.
Stanišićs Werk geht über eine einfache Sammlung von Erzählungen hinaus. Es ist ein “Proberaum fürs Leben”, wie Fatih in der ersten Geschichte es nennt. Diese Erzählungen bieten uns als Leser*innen die Möglichkeit, verschiedene Zukunftsszenarien zu durchdenken und zu erleben, was passieren könnte, wenn wir Entscheidungen vorher einfach erst einmal ausprobieren könnten. So ganz ohne Konsequenzen. Würden wir diese Chance nutzen? Diese tiefgründige Frage zieht sich durch das gesamte Buch und regt zum Nachdenken über unsere eigenen Lebensentscheidungen an. Es stellt sich dann unweigerlich die nächste Frage: Welches Leben verpassen wir dann womöglich, während wir ein anderes leben?
Ein Kaleidoskop von Geschichten und Charakteren
Wir lernen Fatih, Piero, Nico und Saša kennen, die an einem philosophischen Nachmittag in den Heidelberger Weinbergen über eben jenen Proberaum sinnieren. Wir beobachten Georg Horváth, der zwar Pokémon Go-Rekorde aufstellt, aber gegen seinen Sohn im Memory verliert, bis ihm eine nicht ganz ehrenwerte Idee kommt (ob er sie in die Tat umsetzt, wird an dieser Stelle nicht verraten). Und wir reinigen mit Dilek In Wien einen Haushalt, während sie eine gedankliche Reise in die Vergangenheit unternimmt. Wir lauschen der titelgebenden Witwe Gisel (Ich liebe Stanišićs Wortspiele!), wie sie auf ihren täglichen Friedhofsbesuchen von der Welt um sie herum erzählt und sich dabei fragt, wie man eine Gießkanne auf einem Grab wohl richtig platziert.
Aber wo war vorne?
War, wenn sie vor Hermanns Grab stand, vorne der Grabstein?
Oder war vorne andersherum? Dass die Gießkanne in die Welt zeigte und weg vom Grab, weg von Hermann.
Ausserdem begeben wir uns auf einen sehr ungewöhnlichen Trip nach Helgoland, verspäten uns, landen auf einem Hochsitz und treffen schließlich die Hauptfiguren im Anhang, der “Anprobe”, wieder. Hier dürfen sie zehn Minuten eines alternativen Leben ausprobieren und müssen sich entscheiden, ob sie diese Realität annehmen, sich sozusagen einloggen möchten.
Humor trifft auf Ernst in Saša Stanišićs “Proberaum fürs Leben”
Hinter der spielerischen Oberfläche der Geschichten verbirgt sich oft eine tiefe Melancholie und ein ernstes Nachdenken über das Leben. Stanišić beleuchtet gesellschaftliche Missstände mit einer Leichtigkeit und seinem ganz unverwechselbaren schrägen Humor, der selbst ernste Themen zugänglich macht. Gleichzeitig entdeckt er im alltäglichen Leben besondere Details und schafft es, diese gekonnt hervorzuheben.
Ein rhythmisches Meisterwerk
Die Erzählungen zeichnen sich durch einen wilden Stil aus, voller Humor und Wortwitz und oft mit knappen, rhythmischen Dialogen, die für einen großen Lesespass sorgen. Stanišić experimentiert stilistisch auf hohem Niveau. Er verbindet verschiedene Schicksale und mögliche Zukünfte der Charaktere auf magische Weise miteinander. Die Geschichten sind ungestüm und voller Fantasie, gleichzeitig aber durchdrungen von einer positiven Grundstimmung und dem Wunsch nach einer Verbesserung der Lebensqualität…
Fazit: Ein Muss für Freunde des besonderen Humors
“Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne” ist ein Buch voller Geist und Witz, das mit seinem unvergleichlichen Erzählstil und den tiefgründigen Themen begeistert. Es ist kein gewöhnlicher Erzählungsband, sondern ein einzigartiges Werk, das uns Leser*innen eine kraftvolle Botschaft über das Leben und seine vielen Möglichkeiten vermittelt. Für alle, die sich auf eine außergewöhnliche literarische Reise begeben möchten, ist dieses Buch ein absolutes Muss.
Erzählband
Luchterhand (Penguin Randomhouse) | ISBN: 978-3-630-87768-6
2024
Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen
256 Seiten