Elif Shafak: Meisterin der Erzählkunst in “Am Himmel die Flüsse”

by Alexandra Stiller
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Elif Shafak - Am Himmel die Flüsse Elif Shafak: Eine Meisterin der Erzählkunst

Elif Shafak gehört zu den herausragenden Stimmen der modernen Literatur. Mit über 20 veröffentlichten Büchern, darunter 13 Romane, hat sie sich in der literarischen Welt einen festen Platz erobert. Ihre Werke wurden in 57 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. In ihrem neuesten Roman, „Am Himmel die Flüsse“, verwebt Elif Shafak auf meisterhafte Weise die Geschichten zweier Kinder, die durch Zeit, Kultur und Lebensumstände voneinander getrennt sind, aber dennoch durch tiefere Verbindungen zusammengehalten werden.

Arthur Smyth, der König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere

Arthur Smyth wird 1840 am Ufer der Themse in London geboren, inmitten von Armut und industrieller Verschmutzung, was ihm seinen Titel „König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere“ einbringt. Seine Herkunft als Kind einer verzweifelten jungen Frau und die harte Realität des viktorianischen Londons wird durch sein außergewöhnliches Gedächtnis kontrastiert. Trotz der erbärmlichen Lebensumstände und eines gewalttätigen Vaters bahnt ihm sein brillanter Verstand den Weg in die Welt der Literatur und Wissenschaft.

Als Arthur zufällig miterlebt, wie die massiven Lamassu-Statuen, mythische geflügelte Schutzgötter aus Assyrien, ins Britische Museum transportiert werden, wird eine Leidenschaft in Ihm erweckt, die ihn sein Leben lang nicht mehr loslassen wird. Für ihn beginnt eine Reise, die ihn aus den Slums in die angesehenen Hallen des British Museums führt, wo er Keilschrifttafeln studiert – und in die antike Stadt Niniveh, in der er es sich zur Lebensaufgabe macht, die Geheimnisse einer längst vergangenen Zivilisation zu entschlüsseln.

Narin: Ein jesidisches Mädchen in Gefahr

Parallel zu Arthurs Geschichte lernen wir Narin kennen, ein jesidisches Mädchen, das im Jahr 2014 am Ufer des Tigris aufwächst. In ihrem kleinen Dorf ist ihre jesidische Gemeinschaft bereits am Rande des Aussterbens. Narins Welt wird nicht nur durch die Bedrohungen von außen eingeengt, sondern auch durch ihren nachlassenden Gehörsinn, der sie zunehmend von ihrer Umgebung isoliert. Ihre Großmutter, eine Wünschelrutengängerin und Geschichtenerzählerin, reist mit ihr ins heiligen Tal von Lalish, damit Narin dort getauft werden kann. Doch mit der großen Gefahr, die sie dort erwartet, haben sie nicht gerechnet.

Verwebung der Schicksale: Eine vielschichtige Erzählung

Elif Shafak entfaltet diese beiden Schicksale auf mehreren Erzählebenen, die kunstvoll miteinander verwoben sind. Dabei blickt der Roman nicht nur auf das Leben der Einzelnen, sondern schafft eine vielschichtige Reflexion über die Vergangenheit und Gegenwart, das Politische und das Menschliche. Die Geschichte reicht von den ruhelosen, stinkenden Straßen des viktorianischen Londons bis zur Verfolgung der Jesiden durch den Islamischen Staat, ohne dabei ihre zentrale Frage aus den Augen zu verlieren: Wie stehen wir als Menschen in einem globalen Netz von Ungleichheit, Geschichte und Schicksal zueinander?

Das aquatische Gedächtnis: Wasser als verbindendes Element

Ein zentrales Thema des Romans ist das Konzept des , wobei Wasser als Symbol für das Verbinden und Bewahren von Erinnerungen fungiert.  Diese Idee durchzieht den Roman, der nicht nur auf zwischenmenschlichen Beziehungen aufbaut, sondern auch den Fluss der Zeit und das Zusammenspiel von Ereignissen erforscht. Die Geschichte bewegt sich zwischen zwei Flüssen – dem Tigris und der Themse –, von Mesopotamien nach London und zurück, beginnend mit dem assyrischen König Assurbanipal.

Zaleekhah und die Hydrologie

Ein zeitgenössischer Handlungsstrang, in dem die Hydrologin Zaleekhah im Jahr 2018 die unterirdischen Flüsse der Welt kartiert, fügt dem Werk eine wichtige Dimension hinzu. Dieser Strang unterstreicht Shafaks Faszination für das Ineinandergreifen von Natur, Geschichte und Menschlichkeit und zeigt, wie die Erzählung über verschiedene Zeitperioden hinweg verbindet.

Elif Shafak liefert erneut ein bereicherndes Leseerlebnis

Trotz der Fülle an historischen und wissenschaftlichen Details bleibt der Roman immer emotional zugänglich. Shafaks feinfühlige Beobachtungen über menschliche Beziehungen, über das, was in den Herzen ihrer Figuren verborgen bleibt, verleihen der Geschichte eine zarte Intimität, die mich tief berührte.

Shafak gelingt es, das Individuelle und das Universelle in einem groß angelegten literarischen Mosaik zu vereinen – ein Werk, das sowohl durch seine historische Reichweite als auch durch seine nachdenkliche Reflexion über das Heute besticht. Für mich war dieser Roman ein absolut bereicherndes und erhellendes Leseerlebnis, dass ich uneingeschränkt weiterempfehlen kann und möchte. Ein weiteres Lesehighlight einer wahrlich großartigen Autorin.


2024, Alexandra Stiller
Transparenzhinweis: Rezensionsexemplar 

 

Mehr von Elif Shafak:

Eine bewegende Geschichte von Elif Shafak: Das Flüstern der Feigenbäume

Am Himmel die Flüsse
Elif Shafak | Übersetzt von Michaela Grabinger
Roman
Hanser Literaturverlag | ISBN 978-3-446-28008-3
2024
Hardcover mit Schutzumschlag
592 Seiten
www.hanser-literaturverlage.de

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