“Wir leben in bewegten Zeiten”
konstatierte er gleich zu Beginn das Offensichtliche, um zur provokanten Frage überzuleiten, ob es angesichts allgegenwärtiger Krisen noch angemessen ist, sich “dem Genuß eines rauschenden Festes” hinzugeben. Beispielhaft verwies er auf Theordor Adorno, der im Sommer des Jahres 1967 einen Vortrag über Goethe halten sollte, wo kurz zuvor der Student Benno Ohnesorg während einer Demonstration erschossen worden war. Adorno wurde aufgefordert, nicht über den Dichterfürsten, sondern die aktuellen politischen Entwicklungen zu sprechen und Partei für die Aufbegehrenden zu ergreifen. Der Philosoph weigerte sich, strich stattdessen die politische Dimension in Goethes “Iphigenie” hervor. Damit sollte er recht behalten, wie leicht wäre er wohl sonst von der RAF instrumentalisiert worden. Bewegte Zeiten seien also keineswegs ein Spezifikum unserer Tage, so Liessmann, der ein Gedicht Georg Friedrich Hölderlins ins Zentrum seiner Rede stellt … entstanden in den Tagen der Napoleonischen Kriege.
Wie viel Bildung braucht die Kunst, wie viel Kunst braucht die Bildung?
Einmal mehr bezog sich der Festredner auf den Zweck der Kunst, ihre Aufgabe innerhalb der Gesellschaft, ihre Funktion an der Seite der Politik. Wird der Wert der Kunst am Grad ihrer Verwertbarkeit bemessen? Liessmann konstatierte die schwindende Rolle der Kunst in der Bildung und warf auf: “Wie viel Bildung braucht die Kunst, wie viel Kunst braucht die Bildung?” Dem pädagogischen System, dem die Kinder überantwortet werden, diagnostizierte er “Kompetenzorientierung” und “Output-Optimierung”. Zu seinem Herzensanliegen, der Kunst zurückkehrend, schloß er mit dem strahlenden Zentrum aus Hölderlins “Ode an die Parzen”, der zugleich seinen roten Faden darstellte:
“Und mehr bedarfs nicht.”