Mein Überlebensweg als tschechische Jüdin 1939 bis 1945
Cover © Dölling und Galitz Verlag
75 Jahre nach ihrer Befreiung und 30 Jahre nach ihrem Tod erschienen die Erinnerungen von Franci Rabinek Epstein in den USA und liegen jetzt, zwei Jahre später, zu unserem großen Glück auch auf Deutsch vor! Wer sich mit den Berichten von Überlebenden des Holocaust beschäftigt, meint vielleicht irgendwann, alles gelesen zu haben – und wird dann doch eines Besseren belehrt. Denn die Erinnerungen der 1920 in Prag geborenen Jüdin Franci Rabinek sind außergewöhnlich.
Langer Leidensweg
Als sie 1942 verhaftet wird, liegt ein zweieinhalbjähriges Martyrium vor ihr: Theresienstadt, Auschwitz, Hamburg (Dessauer Ufer, Neugraben, Tiefstack) und am Ende Bergen-Belsen. Ihre Eltern werden bereits in Theresienstadt auf einen Transport geschickt und ermordet und auch ihr Ehemann stirbt bei der Zwangsarbeit, was sie aber erst nach ihrer eigenen Befreiung erfahren sollte. In Auschwitz hatte sie das große Glück, nach drei Monaten für den Arbeitseinsatz in Deutschland ausgewählt zu werden. Die Selektion dafür durch Josef Mengele überlebte sie auch deshalb, weil sie sich als Elektrikerin ausgab (ihr Vater war Elektroingenieur), was ihr dann auch in Hamburg half zu überleben.
Und das Leiden endete in Bergen-Belsen, einem Lager, das zum Zeitpunkt ihrer Ankunft von massenhaftem Sterben durch Krankheiten und Verhungern geprägt war: „Der gespenstische Anblick, der sich ihnen dort bot, übertraf alles, was sie bis dahin je zu Gesicht bekommen hatten.“
Ein Bericht der besonderen Art
Dies alles erzählt Franci Rabinek Epstein mit einer ungewohnten Offenheit und Schonungslosigkeit. Man merkt dem Buch an, dass Franci Rabinek nicht zu denen gehörte, die über das Geschehene nicht sprechen wollten, für sie muss das Erzählen, das Darüber-Sprechen eine Selbstverständlichkeit gewesen sein. Dabei gibt es für sie keine Tabus – das Ausspielen der Häftlinge gegen Häftlinge, Auseinandersetzungen, Neid, Diebstahl unter ihnen, das Thema Sexualität – auch als Mittel mancher Häftlinge, den eigenen Status zu verbessern, Brutalität der NS-Täter, aber auch Lichtblicke, wie das Flirten mit italienischen Gefangenen in Hamburg.
Besonders bemerkenswert ist, dass man bei all dem nicht die geringsten Pauschalierungen findet, Häftlinge und Täter werden in ihrer ganzen Vielschichtigkeit und ihren unterschiedlichsten Verhaltensweisen gezeigt. Genau diese Differenziertheit und Offenheit, die immer den Fokus auf den Inhalt und nicht auf eine lang durchdachte Formulierung legen, geben dieser Darstellung eine so starke Authentizität.
Welch Einschnitt in diesem Leidensweg Auschwitz in seiner Entpersonalisierung der Häftlinge bedeutete, wird den Lesenden durch einen ungewöhnlichen Perspektivwechsel ganz besonders deutlich: Von einem Kapitel zum anderen wechselt das „ich“ zu „A-4116“, der eintätowierten Häftlingsnummer.
Mich überkam ein ganz eigenartiges Gefühl. Ich sah hinunter auf meinen tätowierten Arm, und wie das unscharfe Doppelbild aus einer Kamera wurden aus dem einen Arm zwei Arme. Aber nur der eine war tätowiert. Ich versuchte, wieder scharf zu stellen, aber die Verwandlung hörte erst auf, als wir zu zweit waren: ich und A-4116. Ich dachte: ‚Was macht sie hier, der arme Teufel?‘
Erst mit der Befreiung kehrt der Bericht wieder zum „ich“ zurück.
Der schwere Weg danach
Viele Überlebende waren nach ihrer Befreiung völlig traumatisiert, andere verlieren wir schnell aus den Augen, da man doch immer denkt, dass sie jetzt das Schlimmste hinter sich hätten. Daher ist auch hier der Bericht von Franci Rabinek Epstein bemerkenswert, denn sie berichtet auch von Beziehungen zu britischen Soldaten direkt nach der Befreiung, aber eben auch von dem schwierigen Weg in die Normalität, der Einsicht, dass die vorher vorhandene „ausgeprägte Selbstdisziplin“ verloren gegangen war, von einem Leben mit Unsicherheit, Trauer, Hoffnungs- und manchmal auch Antriebslosigkeit:
Mein eigener Glaube an die Menschheit war jedoch schwer erschüttert, ich war zur Zynikerin geworden. In der Musik Gustav Mahlers entdeckte ich ein Spiegelbild meiner eigenen Gemütsverfassung, die zwischen heftigen Energieschüben, Hoffnung und tiefer Verzweiflung schwankte. Ich wollte so gerne eine unabhängige, souveräne und freie Frau sein. Und doch suchte ich immer wieder nach der Vaterfigur, die mich von meinen dummen Eskapaden abhalten würde, da ich meinem eigenen Urteilsvermögen nicht traute.
Der Bericht von Franci Rabinek Epstein wird vervollständigt durch ein wichtiges Nachwort der Tochter Helen, selber Schriftstellerin, die sich lange nicht mit dem Manuskript ihrer Mutter auseinandersetzen wollte, unter anderem, da ihre diese immer wieder direkt über das Vergangene sprach. Dieses eigentlich schon 1975 von Franci Rabinek Epstein fertig gestellte Buch „Roundtrip“ hat sie selbst nicht veröffentlicht, sondern ihrer Tochter übergeben, die in der vorliegenden Ausgabe auch Passagen aus dem damaligen Vorwort, ihre Mutter nannte es „Erklärung“, mit aufgenommen hat, die uns einen noch besseren Zugang zu diesem Bericht geben.
© Rezension: 2022, Jürgen Fottner
Die Elektrikerin. Mein Überlebensweg als tschechische Jüdin 1939 bis 1945 (Originaltitel: Franci’s War. A Woman’s Story of Survival, 2020) wurde aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Sabine Niemann, Hg. von der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen
Blogtransparenz: unbezahlte Werbung; kostenloses Rezensionsexemplar vom Verlag – vielen Dank an den Dölling und Galitz Verlag
Sachbuch
Dölling und Galitz Verlag | ISBN 978-3-86218-162-9
2022
Hardcover
232 Seiten
www.dugverlag.de
1 comment
Ich finde, dass klingt sehr interessant;)
Lieben Dank
Leonardo