Pavel Polian | Briefe aus der Hölle

by Jürgen Fottner
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Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz

Pavel Polian, Briefe aus der Hölle, Rezension buecherkaffee.deCover © wbg – Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Die Beschäftigung mit dem Holocaust ist oft wie der Gang in einen tiefen, dunklen, unheimlichen Keller, in dem man nie weiß, was einen erwartet. Aber selbst dort gibt es eine kleine, enge Tür, hinter der sich ein noch dunklerer, noch verstörenderer Ort befindet, und wer diese Tür einmal öffnet und hindurchgeht, wird nicht mehr derselbe sein. Das mag vielleicht für manche etwas zu unwissenschaftlich oder emotional klingen – aber ich bin überzeugt, dass es stimmt. Denn hinter dieser Tür findet man die Geschichte des Sonderkommandos in Auschwitz – einer der wahrscheinlich perfidesten Aspekte des nationalsozialistischen Lagersystems.

Fünf Abhandlungen als Basis der Texte

Die Mitglieder der Sonderkommandos, zuerst russische Kriegsgefangene, dann jüdische Häftlinge mussten die Menschen in die Gaskammern bringen, die Toten herausholen, ihnen die Haare abschneiden, Goldzähne ziehen und sie dann in den Krematorien oder großen Gruben verbrennen. Und immer wieder tötete die SS diese Häftlinge, aus Angst vor gut informierten Zeugen der Vernichtung. Pavel Polian schildert in fünf Abhandlungen neben der Geschichte der Sonderkommandos auch ihre Be- und Verurteilung durch Überlebende und spätere Generationen, v.a. aus den Reihen der Juden – so auch Hannah Arendt und Primo Levi, die sich im Nachhinein völlig zu Recht vom Autor die Frage gefallen lassen müssen, was sie denn so sicher mache, anders gehandelt zu haben.

Salmen Gradowski, ein Mitglied des Sonderkommandos schrieb dazu:

Durch unseren Brüder-. unseren Familienbund geht ein Riss. Da ist sie, die Schwäche, die Blöße jenes Wesens, das sich Mensch nennt. Der Überlebensinstinkt, der irgendwo tief in jedem von uns nistete, hatte sich in Opium verwandelt und vergiftete unmerklich, unsichtbar den Menschen, den Freund und den Bruder in jedem von uns, verdrängte das Mitgefühl. (S. 336)

Daher ist es auch umso wichtiger, dass sich Pavel Polian in einem eigenen Kapitel mit dem Aufstand des Sonderkommandos 1944 beschäftigt – dem einzigen wirklichen Aufstand in Auschwitz.

Nur wenige Menschen haben das Sonderkommando überlebt, aber man weiß aus dem Bericht eines Zeitzeugen, dass es wohl insgesamt 36 schriftliche Zeugnisse gab, die alle in der Nähe der Krematorien vergraben wurden. Neun Stück davon wurden zwischen 1945 und 1980 entdeckt. Pavel Polian berichtet in einer der Abhandlungen vom Auffinden dieser Texte, warum nur so wenige erhalten sind, erklärt konservatorische Fragen, erzählt vom Weg dieser Dokumente zu ihren heutigen Aufbewahrungsorten oder dem Verschwinden von Originalen, dem Erstellen von Abschriften.

Dabei analysiert Pavel Polian die Rezeption der Texte und die bisherigen Ausgaben (eine davon trägt den Titel „Inmitten des grauenvollen Verbrechens“), die oft von politischen und ideologischen Aspekten geprägt waren. So wurden zum Beispiel in manchen Ausgaben alle kritischen Bemerkungen über die unrühmliche Rolle des polnischen Widerstands beim Aufstand gestrichen oder aber der Aufstand wurde als rein polnische Aktion dargestellt. Im Russland Stalins bestand ebenfalls kein Interesse daran, jüdisches Leid zu thematisieren. Und so gab es bis heute keine Ausgabe, die alle neun erhaltenen Texte beinhaltet und dann auch noch so vollständig und ungekürzt wie in Pavel Polians Buch. 

„Die Chronisten und ihre Texte“

Nach über 150 Seiten bemerkenswerter Abhandlungen über die genannten Themenbereiche präsentiert der russische Wissenschaftler dann die erhaltenen Texte, alle versehen mit einer fundierten Einleitung über das Schicksal der Verfasser und über die Manuskripte. So berichtet er z.B., wie es ihm gemeinsam mit einem IT-Experten gelang, bei einem der Dokumente die Lesbarkeit von 10 auf 90% zu erhöhen. Die Texte selbst, die jetzt in Deutsch vorliegen, sind Übersetzungen der jüdischen und griechischen Originale ins Russische. Dabei wurden alle Übersetzungen erneut direkt an den Originalen (oder wenn nicht mehr vorhanden an den Abschriften) überprüft und überarbeitet, um auch hier unabhängig von allen bisherigen Ausgaben zu sein. Streng wissenschaftlich werden nicht lesbare Stellen gekennzeichnet und nicht nach Wahrscheinlichkeit ergänzt. Abgeschlossen werden die Texte aus dem Sonderkommando durch ein im Januar 1945 von Abraham Levite geschriebenes Vorwort einer Anthologie über und direkt aus Auschwitz.

Die neun Texte sind nicht zu beschreibende Dokumente des Grauens, einer wahnwitzigen, nicht im Ansatz nachzuvollziehenden Extremerfahrung, Texte, die man selbst lesen muss, im Bewusstsein, dass einen das an seine eigenen Grenzen führen wird. Und daher möchte ich es bei aller nüchternen Betrachtung dieses herausragenden Buches nicht versäumen, die Namen der fünf Menschen zu nennen, deren Schriften wir hier lesen können und von denen nur einer das Grauen überlebt hat: Salmen Gradowski, Lejb Langfuß, Salmen Lewenthal, Herman Strasfogel, Marcel Nadjari.

Den Abschluss des Buches bilden weitere wichtige Informationen wie z.B. ein Überblick über die bisherigen Ausgaben, eine Chronik der Ereignisse, Protokolle von Vernehmungen Überlebender durch die Rote Armee.

Fazit:

Pavel Polian nennt sein Werk selbst einen Zwischenbericht – noch kann bei einer Weiterentwicklung der Technik mehr lesbar gemacht werden, es können verschwundene Originale einiger der neun Texte oder sogar einer der anderen, bis heute verlorenen Schriftstücke auftauchen. Und doch kann man mit großer Gewissheit sagen, dass dieser Zwischenbericht bereits ein Standardwerk ist.

© Rezension: 2021, Jürgen Fottner

Blogtransparenz: unbezahlte Werbung; kostenloses Rezensionsexemplar vom Verlag – vielen Dank an die wbg – Wissenschaftliche Buchgesellschaft

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Briefe aus der Hölle. Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz | Originaltitel: Svitki iz pepla Book Cover Briefe aus der Hölle. Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz | Originaltitel: Svitki iz pepla
Pavel Polian | Aus dem Russischen von Roman Richter, bearbeitet von Andreas Kilian
Sachbuch
wbg Theiss in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG) | ISBN 978-3-8062-3916-4
2019
gebunden
632 Seiten
www.wbg-wissenverbindet.de
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