Die Autorin Jennifer Wind wirbelt Unfiktives auf.
Nach einer nicht ganz emotionsfreien Scheidung lässt sich die Polizistin Franziska Fürst (genannt Franzi) vom Landeskriminalamt Wien in steirische Murau versetzen. In eben dieser Gegend geboren, nimmt sie in der Bezirkshauptstadt den Posten der Chefinspektorin an. Damit zieht sie auch wieder auf dem elterlichen Bauernhof ein, den der Vater nach dem Tod ihrer Mutter gemeinsam mit ihrem Bruder bewirtschaftet. Franzis Kinder, Jonas und Amelia, reagieren unterschiedlich auf den Ortswechsel.
Kaum in der neuen Position angekommen, warten bereits die ersten Fälle auf Franzi: Ihre ehemalige Lehrerin Marion Leitner liegt nach einem Sturz vom Günster Wasserfall im Koma. Eine Herde Schafe wird von einem Raubtier, einem Hund oder gar einem Wolf, zu Tode gebissen, und schließlich werden zwei Gebäude mit Symbolen beschmiert. Der Umstand, dass dafür das Blut der getöteten Schafe verwendet wurde, legt einen Zusammenhang nahe. Und weil der Roman als Krimi eingeordnet ist, war der titelgebende Sturz vom Wasserfall höchstwahrscheinlich kein Missgeschick.
Die Autorin Jennifer Wind ist inzwischen bekannt für Krimis und Thriller, die über den jeweils aufzuklärenden Fall hinaus noch gedanklich nachwirken, weil sie Unfiktives aufwirbeln, das nicht von zwei Buchdeckeln zu bannen ist. (Dazu zählen beispielsweise Menschenhandel, Missbrauchsfälle in konfessionellen Einrichtungen oder das kippende ökologische Gleichgewicht.)
Mit “Wasserfallsturz” nutzt sie ihre erzählerische Erfahrung, um jene Region, in der sie aufgewachsen ist, als Schauplatz zu verewigen. Besonderes Augenmerk gilt dabei ihren Figuren, die mit vielen Eigenheiten ausgestattet, die Szenerie mit Leben erfüllen und gelegentlich einfach nur zum Tratschen vorbeischauen, ohne pflichtschuldig die Handlung voranzutreiben.
Die dörfliche Welt ist überschaubar
Franzi Fürst muss sich nicht nur in ihrer neuen Funktion als Leiterin einer kleinen ländlichen Polizeieinheit beweisen. Gleichzeitig soll sie auch innerhalb ihrer Familie für Ausgleich sorgen: Ihr Sohn Jonas, gerade der Faszination für Dinosaurier verfallen, wirkt mit den Eindrücken der neuen Umgebung leicht überfordert. Tochter Amelia, mitten im jugendlichen Aufbegehren, lässt keinen Zweifel daran, dass sie lieber in der Stadt geblieben wäre. Franzis Vater, voll der Skepsis gegenüber allem Urbanen, personifiziert den Stadt-Land-Gegensatz. Dazu laboriert Franzi an einem verstauchen Knöchel, der ihr die Eignung für etwaige Actionszenen nimmt.
Weil die dörfliche Welt überschaubar ist, begegnet Franzi auch Altbekannten: Ihre Schulfreundin Heidrun ordiniert als Ärztin und betätigt sich hilfsbereit als Amateurdetektivin. Und ihre Jugendliebe Max ist ihr als Kollege unterstellt. Dass die Beziehung wieder auflebt, ist in der Erzählung aufgelegt, aber niemals aufdringlich.
Als Verfasserin eines Regionalkrimis steht Jennifer B. Wind in der Pflicht, die regionalen Besonderheiten des Handlungsortes möglichst vielseitig vorzustellen. Angefangen vom Günster Wasserfall über den Samson-Umzug bis hin zum Schloss Lind, wecken die Schilderungen die Neugier. Und mit einer schnellen Online-Recherchen wird die Vorstellungskraft angeregt und das Leseerlebnis erweitert.
Tief inhalierte Franziska die Luft. Weiter weg von den Kadavern roch es nur noch nach nassem Gras, Erde, Regen und Holz. Sie liebte den Geruch. Mit einem Mal wurde ihre bewusst, wie sehr sie das vermisst hatte. Diesen Geruch, weiche Erde unter den Füßen. (S. 41)
Franzi Fürst ist als Heimkehrerin eine praktische Figur
Einerseits zählt sie als gebürtige Murtalerin als Einheimische. Andererseits hat sie durch ihr Exil in der Stadt so viel aufzuholen, dass ihr Wissensstand ähnlich ist wie jener der Leserinnen und Leser. Wie Jennifer B. Wind selbst ist sie in der Lage, sich sowohl hochsprachlich, als auch im regionalen Dialekt zu verständigen. Letzterer ist von den meisten anderen Figuren zu vernehmen, wie etwa Franzis Vater, der, in Rage geraten, linguistische Schmankerl serviert:
‘So a Schwöllschädl! Blochjodler!’
‘Was ist denn, Vota? Was budelst di so auf?’
‘A so a Miachn hat mein Stall angschmiert!’ (S. 109)
In die Rahmenhandlung eingeflochten finden sich zwei weitere Stränge: Die vom Wasserfall gestürzte Marion Leitner liegt im Wachkoma, unfähig sich mitzuteilen, einzig ihre Sinneseindrücke vermitteln ein Bild der Außenwelt. Ihre Wahrnehmungen, ihre Gedanken, ihre Hilflosigkeit kriechen beim Lesen unter die Haut.
Im Zentrum der zweiten Parallelhandlung steht Esther, ein jüdisches Mädchen zum Zeit der NS-Herrschaft. Unfähig zu verstehen, muss sie miterleben, wie zunächst Kontakte zu Bekannten abreißen, ihre Familie in ein Getto verbannt wird und schließlich Freunde und Verwandte deportiert werden. Die politische Katastrophe wird aus der (bequemen) Abstraktion geholt, der NS-Terror aus der Sicht eines Kindes ist schauderhaft und beklemmend.
Persönliches Fazit
Wasserfallsturz von Jennifer B. Wind ist kurzweilige Krimi-Unterhaltung, die von detailreichen regionalen Bezügen und sympathischen Figuren getragen wird. Typisch für die Autorin gibt sie ihren Leserinnen und Lesern einiges zum Nachdenken mit auf den Weg.
© Rezension: 2023, Wolfgang Brandner
Regionalkrimi
Benvento Publishing | ISBN: 978-3-7104-0337-8
2023
Taschenbuch
384 Seiten
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