Fabrice Humbert | Der Ursprung der Gewalt

by Jürgen Fottner
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„Eine mitreißende Familiengeschichte und ein Roman über die Shoah durch die Augen der dritten Generation.“

Fabrice Humbert - Der Ursprung der Gewalt - Rezension buecherkaffee.deCover © Elster & Salis

Vielfach ausgezeichnet, für das Kino verfilmt, große Auflagen – das sind vielleicht schwierige Voraussetzungen, um sich dem nun auf Deutsch erschienenen Buch „Der Ursprung der Gewalt“ von Fabrice Humbert unvoreingenommen zu nähern. Doch in meinen Augen hält dieser Roman, was die Vorschusslorbeeren versprechen – er hat sie verdient!

Fiktionalisierung

Jedes Schreiben, so biografisch es sein mag, ist eine Fiktionalisierung, eine Annäherung an eine Wahrheit, die immer im Fluss ist, zumal ich glaube, dass man einen Menschen nie wirklich kennt. (S. 7)

Fabrice Humbert thematisiert selbst in seinem Vorwort die Bedenken einer Fiktionalisierung des Holocaust und wie viel es ihm bedeutete, dass gerade Jorge Sémprun diesen Weg befürwortete und dieses Buch „autorisierte“. Das mag uns als deutsche Lesende etwas verwundern, aber besonders in Frankreich war die Ablehnung jeder Art von Fiktionalisierung der Shoah besonders ausgeprägt und wurde vor allem dadurch sehr intensiv diskutiert, dass sich Menschen wie Claude Lanzmann massiv und theoretisch fundiert dagegen ausgesprochen hatten. Es ist hier nicht der Ort, um alle die Argumente dafür und dagegen abzuwägen, aber die Beschäftigung mit dem Holocaust außerhalb der Sachbuchliteratur wird mehr und mehr anerkannt – vor allem, wenn sie gelungen ist wie bei Humbert.

Auf der Suche in Buchenwald

Ein Foto in einer Vitrine im Konzentrationslager Buchenwald wird zum Ausgangspunkt einer großen Suche – denn ein junger französischer Lehrer entdeckt auf einem Bild einen Häftling, der seinem Vater erschreckend ähnlich sieht. Bald stellt sich heraus, dass dieser Mann sein Großvater war, von dem er nichts wusste und über den auch der Vater nie gesprochen hat. Wer war dieser Mann? Welche schrecklichen Dinge erlebte er in Buchenwald? Warum schweigt der eigene Vater?

Fabrice Humbert stellt mit seinem Roman Fragen – sich selbst und uns Lesenden. Der erste Teil des Romans beschäftigt sich vor allem mit dem, was der Großvater in Buchenwald erleben musste. Dabei ist dem Autor nicht nur der konkrete Einzelfall wichtig, vielmehr stehen diese Ereignisse stellvertretend für das entsetzliche System des Holocaust. Dabei will Fabrice Humbert auch die Täter beschreiben, „weil die Erinnerung an die Toten zwei Gesichter hat: desjenigen, der am Boden liegt, und desjenigen, der ihn zu Fall gebracht hat. Und ringsum existierte ein System, das das Verbrechen ermöglichte.“ (S. 145).

Das ist schon deshalb erwähnenswert, da man im Moment in der Literatur zum und über den Holocaust oft liest, dass die Opfer hinter den Tätern zurücktreten würden. Das stimmt auch insoweit, dass Opfer oft nur als gesichtslose Masse, als Teil einer Gesamtzahl oder namenlose Schicksale dargestellt werden. Doch die Tatsache, dass man die Namen der Täter kennt, heißt keineswegs, dass sie adäquat dargestellt werden.

Zu oft liest man noch von den Einzeltätern, die gerne so psychopatisch dargestellt werden, dass wir uns zurücklehnen können, uns nicht damit auseinandersetzen müssen, dass „ganz normale Männer“ (ein Buchtitel von Christopher Browning) zu solch entsetzlichen Taten fähig waren und sie uns daher wesentlich näher sind, als wir uns das alle je eingestehen wollen. Und noch weniger will man über das „System, das das Verbrechen ermöglichte“ nachdenken.

Fabrice Humbert - Der Ursprung der Gewalt - Rezension buecherkaffee.de

Was kommt danach?

Vor allem im zweiten Teil geht das Buch dann aber einen Schritt weiter und greift einige der zentralen Fragen für die Zeit nach dem Nationalsozialismus auf: Wie ging und geht die Generation der Opfer-Kinder mit diesen entsetzlichen Ereignissen um und was bedeutet das für das Verhältnis der zweiten zur dritten Generation? Im Roman schweigt der Vater, ist strikt gegen die Recherchen und will auch nichts von den Ergebnissen der Suche wissen.

Darüber hinaus ist eine der zentralen Frage des Romans: Hat die Vergangenheit eine direkte Auswirkung auf die Enkel, selbst wenn sie Ihre Großväter oder -mütter gar nicht kannten? Liegt der „Ursprung der Gewalt“, die der Protagonist im Roman in sich spürt und manchmal auch auslebt, in dem, was der Großvater erleben musste? Und da sind wir bei den großen Vorteilen einer fiktionalen Darstellung: Der Autor muss diese Fragen nicht von allen Seiten beleuchten, er kann den eigenen Einzelfall beschreiben und damit zeigen, dass es vielleicht überhaupt keine Antworten gibt.

Jeder muss die Quelle und den Ort des Bösen selbst finden. Es lohnt die Mühe, ihn aufzuspüren, dort gründlich aufzuräumen, bis nichts mehr da ist. Das zumindest ist die Hoffnung der Narren, die Illusion der Leichtgläubigen und der Demagogen, vor allem aber ist es der schwierigste aller Kämpfe.  (S. 14)

Fabrice Humbert macht es den Lesenden übrigens nicht immer leicht mit seiner Sprache. Sie ist manchmal etwas sperrig, nicht eingängig, das Buch lässt sich nicht flüssig lesen. Das aber ist sicher Absicht, man kommt immer wieder ins Stolpern und nimmt dadurch das Gelesene nie als gegeben, als einfache Wahrheit hin.

Fazit:

Jede Frage „wie viel davon ist wirklich passiert und was erfindet der Autor“ ist bei diesem Roman wie im Grunde bei allen fiktionalen Berichten zum Holocaust in meinen Augen falsch gestellt. Wenn das in der Intention von Fabrice Humbert gelegen hätte, würden wir ein Sachbuch in den Händen halten – aber genau das haben wir nicht, sondern ein eindrückliches und wichtiges Buch zu einigen der wichtigen Fragen im Umgang mit dem Holocaust und eines, das wieder einmal zeigt, dass wir bis heute keine wirklichen Antworten auf darauf haben und diese vielleicht auch nie finden werden.

© Rezension: 2022, Jürgen Fottner

Blogtransparenz: unbezahlte Werbung; kostenloses Rezensionsexemplar vom Verlag – vielen Dank an Elster & Salis

 

Der Ursprung der Gewalt | Originaltitel: L’origine de la violence, 2009
Fabrice Humbert | Aus dem Französischen von Claudia Marquardt
Roman
Elster & Salis | ISBN 978-3-906903-18-7
2022
gebunden
367 Seiten
elstersalis.com
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