Franziska Davies und Katja Makhotina – Offene Wunden Osteuropas

by Jürgen Fottner
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Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs

„Deutschland gilt zwar gemeinhin als „Weltmeister der Aufarbeitung“, aber was wissen die Deutschen tatsächlich über den Zweiten Weltkrieg in Osteuropa? Wie verbreitet ist das Wissen über die Massenerschießungen auf sowjetischem und polnischem Boden, das Aushungern der Zivilbevölkerung in Leningrad, die Auslöschung ganzer Dörfer in Belarus oder in der Ukraine?“ (Aus dem Klappentext)

Franziska Davies und Katja Makhotin - Offene Wunden Osteuropas - RezensionCover © wbg – Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Franziska Davies und Katja Makhotina begeben sich mit ihrem Buch auf die Suche nach Denkmälern, Zeitzeugnissen und -zeugen an Stellen der größten Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg. In neun Kapiteln suchen sie Orte auf, an denen Menschen in unterschiedlichster Weise das Grauen des Krieges und der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik erleiden mussten.

Wie können wir all diese Erlebnisse von Gewalt, Tod und Verlust nachgeborenen Generationen greifbar machen? Tatsächlich können wir die Erfahrung der Menschen, die den Krieg überlebt haben, nicht nachempfinden. Trotzdem dürfen ihre Geschichten nicht in Vergessenheit geraten. Das Einzige, was wir tun können, ist, nach ihren Geschichten zu suchen, ihre Stimmen zu hören und ihnen Raum zu geben.  (S. 13f.)

Schwierige Erinnerung

Erinnerung ist, wie die beiden Autorinnen Franziska Davies und Katja Makhotina zeigen, alles andere als einfach – weder in den Ländern, in denen sich diese Orte befinden, noch im Herkunftsland der Täter. In Deutschland setzen wir zum einen bis heute sowjetische und russische Opfer gleich, vergessen dabei aber, dass die Sowjetunion eben deutlich mehr umfasste – Belarus, Ukraine, Kaukasus… Zum anderen aber wollten und wollen gerade wir Deutschen uns oft auch nicht mehr erinnern:

Hier offenbarte sich der Zusammenhang von Politik, Erinnerung und Ideologie – der Umgang mit dem Krieg in den ersten Nachkriegsjahrzehnten befand sich in Händen derer, die biografisch mit dem NS-Regime verbunden waren.  (S. 19f.)

Das führt dann dazu, dass wir das Leid der deutschen Opfer der alliierten Bombenangriffe wesentlich mehr ins Zentrum unserer Erinnerungskultur stellen als z.B. das Gedenken an die Massen an sowjetischen Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter, die in Deutschland ihr Leben verloren oder nur unter unsäglichem Leid überlebt haben.

Die Lektüre dieses Buches macht aber auch klar, dass in den osteuropäischen Ländern eine Erinnerung an diese Verbrechen keineswegs einfach war und ist, da sie politisch, religiös oder gesellschaftlich beeinflusst ist. Das schwierige Verhältnis Polens zu Russland oder das Bestreben in Polen, jüdischen Widerstand zu bagatellisieren oder ganz zu verschweigen, sind nur zwei Beispiele.

Orte der Erinnerung

Wahrscheinlich am präsentesten sind die Orte Warschau als „Stadt der Aufstände“ und die Schlucht von Babyn Jar. Gerade in Warschau zeigt sich, wie sehr eine Erinnerungskultur von den polnisch-sowjetischen, bzw. dann polnisch-russischen Beziehungen geprägt war und ist. Mit Bełżec und Majdanek waren die Autorinnen Franziska Davies und Katja Makhotina in zwei der reinen Vernichtungslager, die hinter der mächtigen Metapher „Auschwitz“ immer im Hintergrund bleiben, v.a. da von den Lagern der “Aktion Reinhardt“ – Sobibór, Bełżec und Treblinka – kaum Überreste existieren und weniger als 150 Menschen diese Lager überlebten. Ebenfalls nicht im Bewusstsein der deutschen Erinnerungskultur sind Orte wie Pirčiupis oder Korjukiwka, die sogenannten „Feuerdörfer“. Auch das Leiden der Menschen in Leningrad und Stalingrad ist in Deutschland wenig bekannt, v.a. da man mit Stalingrad die Niederlage deutscher Soldaten im Kopf hat und nicht, was in der Stadt selbst davor passierte. Darüber hinaus waren die Autorinnen auch in Lwiw, Minsk, Malyi Trostenez und Wilna – Orte, die in Deutschland kaum jemand kennt.

Es wirkt bis heute nach

Das Buch greift im Vorwort und im Epilog die aktuelle Situation in der Ukraine auf und zeigt, welch unheilvollen Schatten der Zweite Weltkrieg bis heute wirft, z.B. in den „Rechtfertigungen“ Putins für den Angriff. Und auch in Bezug auf die AfD und andere neurechte Strömungen verbinden die Autorinnen das Vergangene mit der Gegenwart und der Zukunft, ohne aber auch nur im Geringsten damit das Geschehene relativieren oder vergleichen zu wollen. Aber dieses Buch zeigt in aller Deutlichkeit, dass die Verbrechen, die von Deutschland ausgingen, eben nicht 1945 ihre Wirkung verloren, sondern bis heute (nach)wirken. Was damals geschah, ist noch lange nicht vorbei und jeder Idee eines Vergessens muss entschieden entgegengetreten werden.

Fazit:

Neben allen Informationen zu den grausamen Verbrechen der Nationalsozialisten hält dieses Buch von Franziska Davies und Katja Makhotina gerade uns Deutschen einen Spiegel vor und zeigt, wie viel es noch zu tun gibt und dass wir von einem Abschluss dieses Themas weit entfernt sind:

(…) so hat dieses Buch zu zeigen versucht, dass es tatsächlich nach wie vor Leerstellen gibt, gerade was das Ineinandergreifen von Holocaust und Vernichtungskrieg im östlichen Europa angeht. Auf der einen Seite steht der Erinnerungsort „Anne Frank“, auf der anderen Seite „Stalingrad und die Niederlage Berlins“. Dabei gehört beides untrennbar zusammen.  (S. 262)

© Rezension: 2022, Jürgen Fottner

Blogtransparenz: unbezahlte Werbung; kostenloses Rezensionsexemplar vom Verlag – vielen Dank an die wbg – Wissenschaftliche Buchgesellschaft

 

Offene Wunden Osteuropas. Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs
Franziska Davies, Katja Makhotina
Sachbuch
wbg THEISS | ISBN 978-3-8062-4432-8
2022
Broschur
286 Seiten
www.wbg-wissenverbindet.de
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