Cover © Campus Verlag
Ein Beispiel für hervorragendes wissenschaftliches Arbeiten
Was Dr. Stefan Kurt Treiber, Historiker und Rundgangsleiter an der KZ-Gedenkstätte Dachau mit seinem Buch „Helden oder Feiglinge“, der überarbeiteten Version seiner Dissertation, vorlegt, ist historische Analyse, wie sie vorbildhafter kaum sein könnte.
„Helden oder Feiglinge?“ – man muss genau hinschauen!
Die Frage, die der Buchtitel schon stellt, kennt seit 1945 viele Antworten. War man zu Beginn schnell der Meinung, dass es sich bei Deserteuren um Verräter handele, begann eine ernsthafte Diskussion und ein Umdenken erst durch die Filbinger-Affäre, die Serie „Holocaust“ und die Friedensbewegung. Schnell schlug aber in dieser Zeit das Pendel zur anderen Seite aus und gefühlt jeder Deserteur wurde zum Widerstandskämpfer – beide Pole sind bis heute nicht verschwunden.
Häufig mündet eine Auseinandersetzung mit den Deserteuren der Wehrmacht in der Dichotomie der Helden und der Feiglinge und bleibt dabei stehen. Ein Dazwischen gibt es selten bis gar nicht. (S. 15)
Und da beginnt die bemerkenswerte Arbeit des Autors: Er hat 999 Fahnenfluchtfälle während des Feldzuges gegen die Sowjetunion 1941 bis 1944 ausgewertet. Dabei gibt es keine Entscheidung, keine Auswahl, keine Begrenzung der Fälle (nur bis 1944, nur Feldheer im Osten…), die er nicht akribisch begründet und so alle Ergebnisse auf ein haltbares und überprüfbares Fundament setzt.
Dabei wird der bisherige Forschungsstand immer mit einbezogen, die Vorgeschichte v.a. im Ersten Weltkrieg wird auf die eigentliche Untersuchung hin dargestellt und auch Arbeiten zu Fahnenfluchtfällen in anderen Kontexten (z.B. bei den alliierten Truppen) werden zum Vergleich herangezogen. So lässt sich z.B. schnell erkennen, dass nur in Deutschland Fahnenflucht als Treuebruch an der „Volksgemeinschaft“ angesehen wurde, was natürlich auf die Beurteilung der Deserteure nicht unerhebliche Auswirkungen hatte.
Alle fast 1000 Fälle werden nach einer exakt dargestellten Methodik anhand bestimmter Kategorien wie Alter, Religion, Berufsstand, Dienstgrad, Vorstrafen, Tatort, Auszeichnungen, Beurteilungen durch Vorgesetzte untersucht, ausgewertet und zusammengefasst. Aus diesem Grund finden sich – für manche vielleicht ungewöhnlich in einem historischen Text – auch Diagramme und Tabellen mit den genauen Ergebnissen. Dabei bleibt kein Schritt unbegründet, jede Quelle wird eingeordnet und bewertet. Aber all diese theoretischen Untersuchungen werden immer ergänzt durch die Darstellung von einzelnen Schicksalen.
Ergebnisse, die überraschen
Aus Sicht von Stefan Treiber kann nur eine „methodische und standardisierte Auswertung von Fahnenfluchtfällen“ dazu führen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten, um sich so der Antwort auf die gestellte Frage zu nähern.
Die Erkenntnisse, die er daraus ermitteln kann, werden sicher bei Vertreterinnen und Vertretern einer der beiden Entweder-Oder-Meinungen zu Diskussionen führen. Vieles, was er herausgefunden oder -gearbeitet hat, überrascht sehr, an dieser Stelle nur einige Beispiele: Von 999 untersuchten Fällen ist Richard Kaszemeik der einzige, der ohne Zweifel als Widerständler zu kennzeichnen ist. Das liegt auch daran, dass die persönliche Motivation eines Fahnenflüchtigen außerordentlich schwer zu finden ist, da die relevanten Quellen hauptsächlich Gerichtsakten sind, also Dokumente der Herrschenden. In Briefen und Biografien haben die Betroffenen ihre Erinnerungen im Nachhinein oft bewusst oder unbewusst geändert.
Ebenso überrascht das Ergebnis, dass die Beurteilungen der Flüchtigen durch Vorgesetzte meist frei von NS-spezifischen Stereotypen waren und die Richter der Feldgerichte entgegen aller Voreingenommenheit Spielraum hatten und diesen oft auch nutzten.
Stefan Treiber kommt auch auf eine geringere Zahl an Deserteuren als einige seiner Kollegen vor ihm, aber in allen Fällen waren es am Ende doch sehr wenige im Vergleich zur Gesamtzahl der Soldaten. Und daher wirft der Autor als Basis einer Referenzrahmenuntersuchung (Krieg, Militär…) der Fahnenflucht eine wichtige Frage auf und gibt auch mögliche Antworten:
Wenn man aber bedenkt, dass in der Regel nur eine verschwindend geringe Minderheit desertierte, lenkt das den Blick eher auf die Frage, warum die überwiegende Mehrzahl nicht desertierte. (S. 143)
Fazit:
Waren Deserteure nun Helden und Vorbilder oder Feiglinge und Verräter? Weder noch – denn Fahnenflucht war in erster Linie ein Ausdruck persönlicher Lebensumstände. (S. 317)
Dr. Treibers Analyse zeigt, dass wie so oft eine einfache, einseitige Antwort auf komplexe Fragen nicht möglich ist. Er erhebt dabei aber auch für seine Arbeit keine abschließende Allgemeingültigkeit, sondern sieht seine Ergebnisse als einen wichtigen Schritt zur weiteren Erforschung des Themas. Ich denke, dass z.B. eine ähnlich aufgebaute Studie zur Fahnenflucht an der Westfront neue und interessante Vergleichspunkte bringen könnte. Allen Nicht-Historikern muss man vielleicht einen Hinweis mitgeben: Wer sich auf dieses Buch einlassen will, braucht Zeit und Konzentration. Die streng analytische, wissenschaftliche Vorgehensweise macht dieses Buch zu keiner leichten Lektüre „für zwischendurch“.
© Rezension: 2022, Jürgen Fottner
Blogtransparenz: unbezahlte Werbung; kostenloses Rezensionsexemplar vom Verlag – vielen Dank an Campus Verlag
Reihe: Krieg und Konflikt, Band 13
Sachbuch
Campus-Verlag | ISBN 978-3-593-51426-0
2021
gebunden
343 Seiten
https://www.campus.de
1 comment
[…] freue mich sehr, Stefan Treiber, drei Fragen zu seinem Sachbuch “Helden oder Feiglinge -Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg” stellen zu können. Vielen Dank für diese […]