Norbert Lüdecke: Die Täuschung

by Jürgen Fottner
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Haben Katholiken die Kirche, die sie verdienen?

Cover © wbg wissenverbindet

Um es gleich vorwegzunehmen: Die Antwort auf die Frage im Untertitel des Buches beantwortet der katholische Professor für Kirchenrecht an der Universität Bonn, Norbert Lüdecke, mit einem klaren „Ja“ – und anders kann die Antwort nach seinen Ausführungen auch gar nicht lauten.

Dialog als Ventil bei Krisen

Die katholische Kirche in Deutschland sah sich mehreren großen Krisen ausgesetzt, die das System teilweise massiv unter Druck setzten. Die Fehl- und Überinterpretation des II. Vatikanischen Konzils hatte Hoffnungen auf Reformen geweckt, die niemals vorgesehen waren. Eindrücklich, detailliert und immer anhand der Quellen belegbar zeigt Norbert Lüdecke, dass die leitende Ebene – die Bischöfe – auf Unmut der Basis nach den Erschütterungen in immer gleicher Art reagierte: den Druck der Laien mit Dialogangeboten auffangen und ablenken. Aber dabei blieb immer, egal wie geschickt und verschleiernd formuliert, das hierarchische System der Kirche bestehen, war das Angebot zum echten Mitreden und Mitentscheiden eine semantische Hülle mit wenig Substanz. Daran änderte auch die Gründung des Zentralkomitees deutscher Katholiken (ZdK) nichts, das am Ende meist dem Kurs der Bischöfe folgte, weil es finanziell und über Bestätigung des Personals von diesen abhängig war.

Begonnen hatte diese Taktik mit der Würzburger Synode, mit der die Bischöfe auf die Stimmung nach der so nicht erwarteten Enzyklika „Humanae Vitae“ von 1968 reagierten. An dieser Synode zeigt Lüdecke ganz klar, dass trotz geschickter Formulierungen am Ende die Laien weiterhin keinen Einfluss nehmen konnten, aber ihnen genau das suggeriert wurde. So wurde im Vorfeld von den Bischöfen festgelegt, welche Themen überhaupt besprochen werden durften und am Ende beschloss die Synode „somit über eine Vorlage, die in Entstehung und Endgestalt auf der vorgängigen Entscheidung durch die zuständigen Bischöfe beruhte.“

Dieser Weg funktionierte immer, in abgewandelter, angepasster und mit steigendem Unmut immer besser verpackter Taktik der angeblichen Mitsprache, die Nichtentscheidungsfähigkeit wurde immer besser versteckt, ob nach dem Ausstieg der Kirche aus der Schwangerenkonfliktberatung, dem Bekanntwerden der Missbrauchsvorwürfe (da durfte zur Ablenkung plötzlich über das Zölibat diskutiert werden) und dem belastenden Abschlussbericht 2018, nach dem der heute noch laufende „Synodale Weg“ ins Leben gerufen wurde – bei genauem Hinsehen vieles, nur keine echte Beteiligung der Laien. 

„Warum nur?“

Das alles mag man vermutet haben, doch Lüdecke geht sehr viel weiter in seiner Analyse. Er zeigt immer wieder, dass die geforderte Mitsprache in der bestehenden katholischen Kirche überhaupt nicht möglich ist. Denn die Kirche ist per se hierarchisch, eine Demokratisierung war auch im II. Vatikanischen Konzil nie vorgesehen, sie ist geteilt in Hirte und Herde. Aber auch die Bischöfe sind, so sehr sie nach unten dominant agieren, gebunden an Rom. Gerade der Austritt aus der Schwangerenkonfliktberatung und der anfängliche Widerstand der deutschen Bischöfe dagegen hat gezeigt, dass es nur zwei Alternativen gibt: Nachgeben oder zurücktreten, denn letztendlich ist das System in den zentralen Fragen zentriert auf eine Person, den Papst. Gleichheit bedeutet in der Kirche nie automatisch Gleichberechtigung. 

Und daher ist eine zentrale Frage des Autors, verbunden mit Fassungslosigkeit und Vorwurf: „Warum nur?“ Warum lassen sich die Laien, obwohl sie das alles wissen oder zumindest ahnen können, so sehr täuschen oder täuschen sich selbst? Die Antwort ist nicht klar zu geben, sie liegt irgendwo zwischen individuellem Glauben an das Heil in der Kirche und einem strukturellen Problem, dass z.B. die Vertretung durch das ZdK eher ein willfähriges Instrument der Hierarchie ist und selbst die Theologen abhängig sind vom Wohlwollen der Bischöfe. 

Ein emotionaler Autor mit einem echten Anliegen

Die Schlussfolgerungen aus all dem sind das Faszinierendste an dem Buch. Gute, akademisch saubere Kritik an der Kirche gibt es immer wieder, aber hier überzeugt vor allem der emotionale Abschluss. Norbert Lüdecke widerspricht der Meinung, dass man da ja eh nichts ändern könne, denn die Laien haben zwei massive Druckmittel: den Entzug von Geld (Kirchensteuer) und den Entzug der Infrastruktur (ehrenamtliche Arbeit). Und daher sollten alle, die sich beschweren, die Konsequenzen ziehen. Oder: 

Aber wer diesen Weg aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit heraus scheut, der sollte mit Klagen aufhören und sich mit der Übergriffigkeit des Systems abfinden.“ Und: „Wer es mit einer weltweiten Mehrheit von über 99 % bei frommen Wünschen belässt, statt etwas zu ändern, der lebt in der Kirche, die er verdient.  (S. 247f.)

Die Emotionalität, die sich auf den letzten 50 Seiten im produktivsten Sinne mehr und mehr Raum verschafft, zeigt vor allem eines: Hier kämpft jemand um die Kirche, hier geht es um eine tiefgreifende, beispiellose Veränderung dieser Institution, mit dem Ziel sie zu retten. Daran sollten vor allem diejenigen denken, die den Autor wahrscheinlich bald massiv kritisieren werden.

Fazit:

Da heute Kirchenkritik wohlfeil ist und fast schon zum guten Ton gehört, mag man im ersten Moment denken: Nicht schon wieder ein Buch zu dem Thema. Doch Norbert Lüdeckes „Die Täuschung“ lohnt sich – eben nicht nur für die katholischen Laien, sondern für alle, die sich mit dieser Institution, die unsere Gesellschaft auch außerhalb aller Glaubensvorstellungen seit 2000 Jahren im Guten wie im Schlechten (mit)prägt, interessieren.

© Rezension: 2021, Jürgen Fottner

Blogtransparenz: unbezahlte Werbung; kostenloses Rezensionsexemplar vom Verlag – vielen Dank an wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt)

 

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Die Täuschung. Haben Katholiken die Kirche, die sie verdienen? Book Cover Die Täuschung. Haben Katholiken die Kirche, die sie verdienen?
Norbert Lüdecke
Sachbuch
wgb Theiss by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt) | ISBN 978-3-8062-4353-6
2021
Broschur
304 Seiten
www.wbg-wissenverbindet.de
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