Überlebende des NS-Regimes in der Schweiz heute – 15 Porträts
Mit Fotografien von Annette Boutellier. Mit einem Vorwort von Raphael Gross, Eva Lezzi
Gegen das Vergessen
Noch ein Buch über den Holocaust? Noch mehr Berichte Überlebender? Leider steht diese Frage immer wieder im Raum, wenn man sich intensiv mit dem „Dritten Reich“ und seinen Verbrechen auseinandersetzt. Elio Toaff, der ehemalige Großrabbiner von Rom, hat darauf eine wichtige und im Grunde abschließende Antwort gegeben:
Die Geschichte des Holocaust ist wie ein großes Mosaik, in dem jeder Stein für Leiden, Schmerz und Verzweiflung steht. Entgegen allen Regeln kennt dieses Mosaik weder Schranken noch Grenzen und bedarf in seiner Unendlichkeit immer neuer Steine und neuer Beiträge.
Jedes einzelne Schicksal ist es wert, dass wir heute davon lesen, denn im Verhältnis zu den Millionen Ermordeter sind die Überlebenden eine verschwindend kleine Menge. Die 15 Porträts in dem wunderbaren Buch aus dem Limmat-Verlag sind Mosaiksteine, die aber alle mehr sind als Erinnerungsberichte an das Grauen des Holocaust. Sie zeigen etwas, was uns allen bewusst sein müsste, wir aber meist vergessen: Oft enden Berichte über das Überleben des nationalsozialistischen Terrors für Lesende mit einem Aufatmen – doch für alle, die den Holocaust erleben mussten, geht das Grauen weiter. Wie geht man mit der Erinnerung an das Erlebte um, mit dem Wissen, dass Familie, Freunde, Bekannte ermordet wurden – und wie hält man die immer bewusst oder unbewusst im Raum stehende Frage aus, „warum habe gerade ich überlebt?“ – eine Frage, die bei vielen Überlebenden Schuldgefühle ausgelöst hat.
„Ich habe nie gelebt, ich habe immer nur überlebt.“
Manche konnten und wollten nie mehr über das Erlebte sprechen oder entschieden sich erst sehr spät dazu, andere suchten gerade Heilung darin zu erzählen oder sahen dies trotz aller damit verbundenen Schmerzen als Verpflichtung gegenüber den nachfolgenden Generationen an.
So erzählen die Porträts oft auch von einer schwierigen, leidvollen Zeit nach der Befreiung, denn auch im alltäglichen Leben begann für die Überlebenden kein einfaches Leben: Oft war die Heimat zerstört oder nicht mehr erreichbar, die Familie war nicht mehr da, Widergutmachungsverfahren wurden verschleppt, Armut und Einsamkeit prägten das Leben, eine Atmosphäre des Vergessens und Verdrängens entstand und Antisemitismus endete eben nicht 1945. Monique Simon, eine der Porträtierten, bringt es auf den Punkt: „Ich habe nie gelebt, ich habe immer nur überlebt.“ (S. 134). Und Katharina Hardy, die unter anderem Ravensbrück und Bergen-Belsen überlebte, sagt der Autorin:
Ich bemühe mich, ein normales Leben zu führen, mich anzupassen. Aber für mich ist dieses normale Leben lächerlich. Weil die Leute nicht wissen, was alles sein könnte, was alles möglich ist. (S. 31)
Simone Müller gelingt es auf eine bemerkenswert einfühlsame Art und Weise all diese Erfahrungen eindrücklich darzustellen, ohne dass auch nur ein einziges Mal etwas aufdringlich oder voyeuristisch anmutet. Die 15 Personen des Buches öffnen sich – vielleicht mehr als sie ursprünglich dachten, aber man spürt, dass niemand gedrängt wurde, mehr zu erzählen, als sie oder er wollte.
Eindrucksvoll und einfühlsam
Die 15 Porträtierten unterscheiden sich sehr, wir erleben Menschen unterschiedlicher Herkunftsländer, religiöser Prägung und sozialer Zugehörigkeit und eben auch verschiedener Arten des Umgangs mit dem Grauen nach der Befreiung. Sie alle eint, dass sie den Terror der Deutschen erleiden mussten. Und Simone Müllers Buch schafft eben noch eine weitere Klammer – alle 15 leben heute in der Schweiz. Das ist mehr als nur eine geografische Zusammenfassung. Die besondere Stellung der Schweiz zum „Dritten Reich“, die Thematik des geraubten Vermögens vieler Juden, die Kompromisse, die eine Neutralität verlangte, prägen bis heute den (verhaltenen) Umgang dieses Landes mit seiner Vergangenheit:
Das Interesse an den wenigen Überlebenden beschränkt sich in der heutigen Schweiz hingegen nach wie vor primär auf offizielle, ritualisierte Gedenkveranstaltungen oder auf Zeitzeugen-Gespräche an Schulen. (…) Die vielfältigen Erinnerungs-Geschichten können helfen, die Verfolgten und Überlebenden nicht aus den Augen zu verlieren und die Schweiz in ihrer ambivalenten Rolle – als ersehntes Zufluchtsland und politisch verstrickter Staat – wahrzunehmen. (S. 11f)
Auch wenn man noch so viele über das Thema gelesen hat, man erfährt immer wieder Neues: So ist sicher wenigen bekannt, dass der sowjetische Staat trotz des auch dort herrschenden Antisemitismus nach dem Massaker von Babyn Jar hunderttausende Juden ins Landesinnere evakuierte, um sie vor den Deutschen zu schützen.
Fazit:
Selten sind die Berichte Überlebender so eindrucksvoll und einfühlsam umgesetzt – gerade, weil das Buch die Ambivalenz der Schweiz als Lebensort der 15 Menschen und gleichzeitig als Land mit einer ungenügenden und schwierigen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit aufgreift. Eine besondere Erwähnung verdienen auf jeden Fall die faszinierenden Fotos von Annette Boutellier. Ihr gelang es, die Menschen so zu fotografieren, dass wir all das Grauen, die Trauer, die Angst und vielleicht auch die Hoffnung in den Gesichtern erkennen können – wenn wir uns darauf einlassen.
© Rezension: 2023, Jürgen Fottner
Blogtransparenz: unbezahlte Werbung; kostenloses Rezensionsexemplar vom Verlag – vielen Dank an den Limmat Verlag
Sachbuch
Limmat Verlag Zürich
2022
Hardcover
250Seiten
www.limmatverlag.ch/