Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz
Ein Gespräch mit der Mutter in der Küche – so beginnt das Buch und so beginnen die Recherchen von Omer Bartov, Professor für europäische Geschichte und deutsche Studien an der Brown University in Providence. Buczacz, eine kleine Stadt in der heutigen Ukraine, wird zu einem exemplarischen Kristallisationspunkt historischer Forschung. Denn hier wird nicht Stadtgeschichte erzählt, sondern am Beispiel eines Ortes die Entwicklung hin zum nationalsozialistischen Völkermord mit all seinen grausamen, verstörenden und schwer erklärbaren Facetten verdeutlicht.
Die Zeit davor: Ursachen und Grundlagen
Im ersten Moment mag es befremdlich wirken, dass eine Untersuchung, die sich mit dem NS-Terror befasst, erst nach 200 Seiten vom Einmarsch der Wehrmacht in Buczacz berichtet. Aber schnell wird klar, dass das eine der ganz besonderen Stärken von Bartovs Forschungen ist. Er erzählt die Vorgeschichte, die zur Basis der deutschen Terrorherrschaft wurde, in einer Stadt mit polnischer, ukrainischer und jüdischer Bevölkerung, die immer wieder unter unterschiedlichen Herrschaften stand, im Zuge des Ersten Weltkrieges zwei Mal von Russland besetzt wurde und in der es immer wieder zu teilweise großen Grausamkeiten der polnischen und ukrainischen Gruppen untereinander und zu antisemitischen Übergriffen und Haltungen kam. Denn die jüdische Bevölkerung der Stadt stand meist zwischen allen und wurde oft von einer der beiden anderen Gruppen oder von beiden angefeindet. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges war besonders der Konflikt der Ukrainer gegenüber den Juden am Siedepunkt, da sich bei der Besetzung von Buczacz auf Basis des Hitler-Stalin-Pakts die Sowjets zu Beginn auf die Juden stützen, bevor auch sie ab Mitte 1940 in willkürlichen Massendeportationen in die UdSSR gebracht wurden – Ironie des Schicksals:
Nur Juden konnten sich im Nachhinein „glücklich schätzen“, deportiert worden zu sein, wenn man berücksichtigt, dass von denen, die während der deutschen Besatzung noch vor Ort waren, über 90 Prozent verstarben. (S. 199).
Opfer, Täter und Mitwirkende
So wird am konkreten Fall von Buczacz deutlich, wie sehr es den Nationalsozialisten gelang, lokale Konflikte und Emotionen zu ihren Zwecken auszunutzen – direkt mit Eintreffen der Wehrmacht gründete sich eine ukrainische Miliz, welche die Deutschen auch beim Massenmord, den Erschießungen und Deportationen unterstütze.
Das Leben in Städten wie Buczacz beruhte auf der ständigen Wechselbeziehung zwischen verschiedenen religiösen und ethnischen Gemeinschaften. (…) Die Verflechtung machte die Existenz solcher Städte erst möglich. Und ohne sie hätte sich schließlich der Genozid in diesen Gemeinden nicht in dieser so grausamen wie intimen Form abspielen können.
Omer Bartov gelingt es am Beispiel dieser Stadt, viele relevante Aspekte des Holocaust zu thematisieren, zu problematisieren und – soweit das überhaupt möglich ist – einzuordnen: das emotional sehr aufgeladene Thema Judenrat und Jüdischer Ordnungsdienst, das Verhalten der nicht-jüdischen Bevölkerung vor Ort, verbunden mit Verrat, Gleichgültigkeit, Zustimmung und die Brutalität deutscher Beamter und Soldaten, die teilweise mit ihren Familien vor Ort lebten und für die diese Zeit oft der „Höhepunkt ihres Lebens“ wurde, denn „Lebensmittel, Alkohol, Tabak und Sex standen ihnen fast unbegrenzt zur Verfügung.“
Der Historiker Omer Bartov schließt seine Betrachtungen mit einem Überblick über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, den Versuchen der einzelnen Volksgruppen, sich als jeweils größtes Opfer darzustellen und mit den Schwierigkeiten einer Erinnerungskultur innerhalb der UdSSR
Der richtige Umgang mit Quellen
Omer Bartov hat für sein Buch über 200 Zeugnisse jüdischer Überlebender ausgewertet, aber auch eine Unmenge an Dokumenten und Aussagen anderer Beteiligter – veröffentlichte und unveröffentlichte. Das führt zu einer ganz besonderen Tiefe und Eindringlichkeit dieser Untersuchung:
Im vorliegenden Buch wird diese Geschichte in den Worten derer erzählt, die sie erlebt haben. Mit diesem Ansatz und den begleitenden Fotos soll versucht werden, das Leben von Buczacz in seiner ganzen Vielschichtigkeit zu rekonstruieren. (S. 19).
Besonders hervorzuheben sind seine Überlegungen zu den sehr unterschiedlichen und auch widersprüchlichen Zeugnissen. In diesen zeigen sich teilweise weit auseinanderliegende Beurteilungen der Täter und der Tätergruppen. Viele jüdische Überlebende berichten von den Grausamkeiten der Deutschen, andere von denen der Ukrainer, vom Verrat nicht-jüdischer Mitbürger*innen, manche aber auch davon, wie sogar Deutsche sie retteten. Omer Bartovs Fazit, das er grandios herausarbeitet, ist auch ein Musterbeispiel der historischen Quellenbeurteilung:
Die oft widersprüchlichen Einstellungen gegenüber nichtjüdischen Ortsbewohnern und sogar Deutschen in den Berichten der Überlebenden besagen nicht, dass die Zeugen unzuverlässig, vergesslich oder irrational wären. Sie belegen vielmehr, dass sich Menschen in Extremsituationen unerwartet und manchmal inkonsequent verhielten. (S. 327)
Hilfe durch die Deutschen? Relativiert das ihre Schuld? Das ist sicher eine der wichtigsten Erkenntnisse des Buches: „Das Böse des Massenmords wird durch einzelne gute Taten in keiner Weise gemindert.“ (S. 324).
Denn eines darf nie vergessen werden: In der Region Czortków-Buczacz wurden ca. 60.000 Juden getötet, nur 1.200 überlebten; fast die komplette jüdische Bevölkerung von Buczacz wurde in der kurzen Zeit zwischen Oktober 1942 und Juni 1943 getötet.
Fazit:
Untersuchungen wie die von Omer Bartov sind eine unverzichtbare Ergänzung zu den großen Standard- und Überblicksdarstellungen, denn sie brechen das oft abstrakte, schwer erfassbare Ganze auf das Konkrete herunter und schaffen so eine Veranschaulichung, die wichtig und notwendig ist – vor allem, wenn dies in so herausragender Weise wie in diesem Buch geschieht.
© Rezension: 2021, Jürgen Fottner
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Sachbuch
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag | ISBN 978-3-633-54309-0
2021
gebunden
485 Seiten