Matthias Daufratshofer: Das päpstliche Lehramt auf dem Prüfstand der Geschichte

by Jürgen Fottner
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Franz Hürth SJ als „Holy Ghostwriter“ von Pius XI. und Pius XII.

„Doch wer verfasste eigentlich die Verlautbarungen des Stellvertreters Jesu Christi auf Erden? Wie entsteht ein Dogma und wie erfolgt die Inszenierung einer unfehlbaren Verkündigung durch den Papst? Und: Kann katholische Glaubenslehre sich entwickeln oder gar korrigiert werden? (…) Unerwartet eröffnen sich historisch fundierte Optionen für die aktuelle Reformdiskussion der katholischen Kirche.“ (Aus dem Klappentext)

Matthias Daufratshofer: Das päpstliche Lehramt auf dem Prüfstand der Geschichte

Cover © Verlag Herder

Ich kann die Frage schon hören, wen denn heute noch ein Buch über die katholische Kirche interessiert? Aber ist es nicht immens wichtig eine Institution zu verstehen, die seit über 2000 Jahren existiert, der immer noch weit über eine Milliarde Menschen angehören und die immer wieder Geschichte geschrieben hat? Und ob es uns gefällt oder nicht – Religionen und die sie vertretenden Kirchen prägten und prägen unsere Werte, unsere Kultur und unsere Gesellschaft und sind es daher allemal wert, dass wir uns damit auseinandersetzen.

Was der Kirchenhistoriker Matthias Daufratshofer mit seinem Buch vorlegt, ist nicht nur eine faszinierende kirchengeschichtliche Studie, sondern legt einige beinahe revolutionäre Erkenntnisse vor, die innerhalb der katholischen Kirche zu unglaublichen Änderungen führen könnten. Dabei untersucht der Autor drei Dokumente des päpstlichen Lehramts: die Enzyklika „Casti connubii“ (1930) über die Ehe- und Sexualmoral, die Apostolische Konstitution „Sacramentum ordinis“ (1947) über die Priesterweihe und die Dogmatisierungsbulle „Munificentissimus Deus“, die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel (1950), eine der ganz wenigen Entscheidungen, die ein Papst kraft seiner Unfehlbarkeit verkündet hat.

Zu den beiden beteiligten Päpsten Pius XI. und XII. liegen zwischenzeitlich in den vatikanischen Archiven Dokumente zur Erforschung bereit – allerdings konnte der Autor die Unterlagen zu Pius XII. noch nicht auswerten, da aufgrund der Corona-Pandemie die Archive geschlossen waren. Aber der sogenannte „Fondo Hürth“, der Nachlass des Jesuiten Franz Hürth (1880-1963), wurde zu einer ungeahnten Fundgrube, in der sogar Dokumente, die eigentlich vernichtet sein müssten, auftauchten – „gewissermaßen ein biografisches Fenster in einem sonst verschlossenen lehramtlichen Raum.“

Matthias Daufratshofer: Das päpstliche Lehramt auf dem Prüfstand der Geschichte

Matthias Daufratshofer geht dabei in einer sehr genauen Analyse anhand unterschiedlicher Versionen der Verlautbarungen mit beispielhaften Textvergleichen und Dokumenten den Fragen auf den Grund: Wer war Verfasser, wer hat wann was neu formuliert oder gestrichen, was wurde eventuell nach Veröffentlichung noch geändert? Beinahe detektivisch kann der Autor dadurch die massive Beteiligung und Einflussnahme des Jesuiten Hürth nachweisen. Dabei geht es aber nicht nur um die drei genannten Dokumente, sondern immer auch um die dahinterstehenden Strukturen, Prozesse und Abläufe allgemein.

Auch wenn diese Vergleiche manchmal etwas Anstrengung verlangen, gelingt es Matthias Daufratshofer, spannend und hochinteressant zu schreiben und seine Lesenden immer im Blick zu behalten: 

Bei der Suche nach den Quellen sollen die Leserin und der Leser mit in die Archive genommen werden, wo sie dem Kirchenhistoriker über die Schulter blicken können. (S. 145)

So erfahren wir, wie intensiv sich die Päpste auf Dritte verlassen bei solch wichtigen Dokumenten und wie weit das gehen konnte: In einem Fall fragt der Papst bei Franz Hürth nach, wie denn das, was er selbst in einem veröffentlichten Dokument gelehrt hatte, eigentlich zu verstehen sei. Und es wird deutlich, wie weltlich diese Texte zu Stande kommen, bei denen in der Kirche doch die Annahme besteht, dass der Heilige Geist selbst den Papst beim Verfassen der Texte leite: 

Angesichts der in der Vorbereitungskommission heftig geführten Kontroversen um die Dogmatisierungsbulle wird erschütternd offenbar, wie Ordenszugehörigkeiten, Loyalitäten und politisches Taktieren für den definitiven Text eines von Gott geoffenbarten Dogmas letztentscheidend waren. Von der Assistenz des Heiligen Geistes im allzu menschlichen Redaktionsprozess war nichts zu spüren. (S. 531)

Doch was sind nun die aufsehenerregenden Erkenntnisse, zu denen der Autor kommt? Gerade die Annahme, dass eine höhere Macht die Päpste beim Verfassen ihrer lehramtlichen Schreiben unterstütze, bedeutet eigentlich Kontinuität, da der Heilige Geist sich nicht widersprechen kann, „ein und derselbe Satz kann ja nicht heute wahr und morgen falsch sein.“ Das führt zu großen Diskussionen z.B. bei „Humanae vitae“ zum Thema Empfängnisverhütung. Kann die Kirche 1960 etwas erlauben, was „Casti connubii“ verboten hat? Wenn ja, hätte man zugegeben, dass sich der Papst 1930 geirrt hat.

Doch das große Dogma der Himmelfahrt Mariens setzt sich nach der Analyse des Autors über existierende Vorgaben hinweg, denn ein „von Gott geoffenbartes Dogma musste nach den Vorgaben des Trienter Konzils sowohl in der Heiligen Schrift als auch in der Tradition der Kirche verwurzelt sein“. Und wer in der Bibel auf die Suche geht nach einer Stelle über die Mariens Himmelfahrt, kann lange suchen und wird doch nichts finden. Besonders aber „Sacramentum ordinis“ enthält eine „lehramtliche“ Bombe, schreibt der Papst dort doch selbst, „dass die Kirche Bestimmungen, die sie getroffen hat, auch abändern oder aufheben kann“ und dieses Schreiben tut genau dies nach den vorliegenden Deutungen.

Fazit:

Dieses Buch ist eine Studie im besten Wortsinn: zuerst werden die drei Dokumente untersucht, davon ausgehend das päpstliche Lehramt generell auf den Prüfstand gestellt, dann werden die zentralen Ergebnisse zusammengefasst in einem Prüfbericht und am Ende Bilanz gezogen. So lesen wir 700 Seiten voller wichtiger Informationen, die dennoch nur eine Zwischenstufe sind. Denn erst wenn die Dokumente zu Pius XII. gesichtet werden können, wird sich zeigen, wie sehr die beiden hier untersuchten Entscheidungen seines Pontifikats einen Weg aufzeigen, dass auch die katholische Kirche Meinungen ändern oder sogar widerrufen kann. Und das Buch zeigt, „dass Kirchengeschichte als historisch-theologische Disziplin nicht nur l´art pour l´art betreibt, sondern Entscheidendes für die Möglichkeit von Reformen in der katholischen Kirche zu sagen hat.“

© Rezension: 2022, Jürgen Fottner

Blogtransparenz: unbezahlte Werbung; kostenloses Rezensionsexemplar vom Verlag – vielen Dank an die Verlag Herder GmbH

Das päpstliche Lehramt auf dem Prüfstand der Geschichte. Franz Hürth SJ als „Holy Ghostwriter“ von Pius XI. und Pius XII. Book Cover Das päpstliche Lehramt auf dem Prüfstand der Geschichte. Franz Hürth SJ als „Holy Ghostwriter“ von Pius XI. und Pius XII.
Matthias Daufratshofer
Sachbuch
Herder | ISBN 978-3-451-38988-7
2021 (2., durchgesehene Auflage)
Gebunden
677 Seiten
www.herder.de
1 comment

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Textopfer 10. Dezember 2022 - 10:21

Das klingt total spannend! Und auch wenn es hier nur als Zwischenstufe hier tituliert wird, finde ich diesen Schritt doch schon mal interessant!
Textopfer

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