Zur Zeit meiner Kindheit gab es noch sehr wenige Museen in Istanbul, meist historische Bauten, die unter Denkmalschutz standen, oder wie Behörden anmutende Einrichtungen. Erst als ich später die kleinen, unscheinbaren Museen entdeckte, die sich in den Nebenstraßen europäischer Städte verbargen, merkte ich, dass Museen (genauso wie Romane) auch die Geschichte einzelner Individuen erzählen können.
(Orhan Pamuk, in “Der Trost der Dinge”)
Liebe Leser*innen,
es freut mich sehr, dass auch ich in der neuen Rubrik Kultur erleben hier auf Buecherkaffee.de meine Erfahrungen mit Euch teilen kann. Vor einigen Wochen habe ich mir einen Museumstag in München gegönnt; die erste Station war das Bayerische Nationalmuseum, dann führte mich der Weg in das Staatliche Museum Ägyptischer Kunst und zum Abschluss ins Lenbachhaus – denn das war der eigentliche Grund des Ausflugs: Der Besuch der Ausstellung Der Trost der Dinge von Orhan Pamuk und es war auch das Highlight dieses Tages – der alte Spruch hat sich bewahrheitet: Das Beste kommt zum Schluss!
Orhan Pamuk: Literaturnobelpreisträger und vielseitiger Künstler
Orhan Pamuk, der bisher einzige Literaturnobelpreisträger der Türkei, ist weit mehr als ein Schriftsteller. Er ist Fotograf, Zeichner, Kurator und Museumsgründer – genau das bringt diese wunderbare Ausstellung den Besuchenden nahe. Die Wanderausstellung war zuerst in Dresden zu sehen und gastiert jetzt bis zum 13. Oktober noch in München; danach zieht sie weiter nach Prag.
Wahrhafte Museen sind Orte, an denen sich die Zeit in Raum verwandelt.
(Orhan Pamuk, in Museum der Unschuld)
In seinem frühen Roman „Museum der Unschuld“ schildert Orhan Pamuk die Liebesgeschichte des Fabrikantensohns Kemal und seiner schönen Cousine Füsun. Als ihre Beziehung in einer Tragödie endet, richtet Kemal ein Museum ein, in dem Tausende von Gegenständen ausgestellt sind, die ihn an Füsun erinnern. Und genau dieses Museum hat der Autor während des Schreibens aus seiner eigenen Fiktion in die Realität überführt, so dass sich Roman und Museum gegenseitig beeinflussten – während der Roman 2008 erschien, dauerte es allerdings noch weitere vier Jahre, bis das Museum auch eröffnen konnte.
40 Kabinette: Orhan Pamuks persönliche Zeitreise nach Istanbul
Dreidimensionale Zusammenstellungen der Objekte zeigen über die Vermittlung der Gegenstände das Leben in der Stadt Istanbul im 20. Jahrhundert – 40 dieser Kabinette sind in München zu sehen, nachgestaltet von Orhan Pamuk selbst für die Ausstellung, ergänzt durch eigens für die Ausstellung entstandene neue Werke, die sich in Auseinandersetzung mit der Sammlung des Lenbachhauses und Künstlern wie Paul Klee und Alfred Kubin mit dem Werk Pamuks verflechten. Schon in diesem Bereich hätte ich Stunden verbringen können, denn jede einzelne Vitrine ist eine Welt für sich.
Weiter ging es mit Gemälden und Fotografien von Orhan Pamuk. Ich kannte zwar aus einigen seiner Bücher sein Talent fürs Fotografieren, wusste aber nicht, dass er auch über seine Tagebücher hinaus Bilder gemalt hat – was für ein schöner Moment, wenn man über einen Autor, von dem man schon so viel gelesen hat, wieder etwas Neues erfahren darf. Und viele dieser Bilder und Zeichnungen präsentiert die Ausstellung überhaupt zum ersten Mal der Öffentlichkeit.
Faszinierende Einblicke: Orhan Pamuks persönliche Tagebücher
Und dann kam ein fast schon ehrfürchtiger Moment für mich. Seit 2009 schreibt und zeichnet Orhan Pamuk in Notizbüchern, was ihn bewegt, was er erlebt – ein Tagebuch der besonderen Art. Dabei entstehen die Kombinationen nicht unbedingt gleichzeitig, manchmal malt er Bilder zu Texten, die weit vorher entstanden sind. Vor wenigen Monaten hatte ich das Buch „Erinnerungen an ferne Berge“ gelesen, das eine Auswahl aus diesen Tagebüchern bietet – und plötzlich stehe ich vor einigen dieser Bücher und darf sie im Original sehen. Die Form, wie Pamuk seine Notizbücher füllt, ist für mich absolut faszinierend.
Auf meinem Instagram Account findet ihr auch meinen Beitrag zu >> “Erinnerungen an ferne Berge”
„A House of Ink“: Künstler Ali Kazma begleitet Orhan Pamuk im Video-Triptychon
Den Abschluss der Ausstellung bildet das Video-Triptychon des Künstlers Ali Kazma “A House of Ink”. Auf drei Bildschirmen nebeneinander wird Orhan Pamuk bei seinem literarischen und künstlerischen Werk begleitet – ich konnte also da „dabei sein“, wie er seine Tagebücher schreibt und malt.
Außerdem erleben wir ihn in seinem Atelier, seiner Bibliothek und seinem umfangreichen Archiv. Da der Film in Endlosschleife läuft, kann man jederzeit einsteigen und die 50 Minuten auf sich wirken lassen. Mich hat dieser Film unglaublich beeindruckt und ich würde ihn gerne noch einmal sehen.
Und natürlich hat mich neben den nachhaltigen Erinnerungen an diesen Museumsbesuch auch das Buch zur Ausstellung nach Hause begleitet, so kann ich wenigstens im Kleinen diese so unterschiedlichen aber alle faszinierenden Werke weiter auf mich wirken lassen. Wer die nächsten Wochen noch nach München kommt und ein wenig Zeit hat, dem kann ich einen Besuch nur nahelegen und nein, man muss die Bücher von Orhan Pamuk nicht vorher gelesen haben, diese Ausstellung lohnt auch so!
Zudem wurde mir klar, dass ein ganz besonderer Wert von Museen darin liegt, zu zeigen, in welchem Zusammenhang sich die Objekte zueinander befinden, wie sie sich auf Menschen und deren Gedanken und Sorgen beziehen. Das nenne ich die Kraft der Dinge – eine tröstende Kraft gegen die vergehende Zeit.
(Orhan Pamuk, in Der Trost der Dinge)
2024, Jürgen Fottner
Einige Bilder wurden mir freundlicherweise zur Verwendung zur Verfügung gestellt, ich danke dem Lenbachhaus München.