Rezension | Der ungeladene Gast | Sadie Jones

by Alexandra Stiller
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30. April 1912. auf dem schon etwas heruntergekommenen Anwesen Sterne herrscht große Betriebsamkeit, den Emerald Torrington, die älteste Tochter von Charlotte bereitet zu Ihrem zwanzigsten Geburtstag eine kleine Feier mit Freunden vor. Obwohl die Familie von großen finanziellen Sorgen geplagt ist und darum fürchtet, das geliebte Anwesen zu verlieren, versuchen Sie, die Fassade von Wohlstand und Eleganz aufrecht zu erhalten. Aber der strahlende Glanz blättert ab wie die Farbe an der Hauswand. Nachdem Charlottes Ehemann verstarb und sie erneut heiratete, hängt der Haussegen zusätzlich schief, den die Kinder Clovis und Emerald können und wollen den neuen Ehemann und Herrn auf Sterne nicht akzeptieren.

Ein mysteriöses Zugunglück in der Nähe lässt die Feierlichkeiten aus dem Ruder laufen, denn plötzlich trifft eine große Schar der Zugpassagiere ein und bittet um Einlass und Verpflegung. Zudem taucht ein geheimnisvoller Nachzügler auf und mit ihm zieht das wahre Chaos auf Sterne ein. Denn dieser Mann sichert sich nicht nur frech einen Platz am Geburtstagstisch, sondern teilt auch ein wahrlich dunkles Geheimnis mit Charlotte. Nicht nur draußen in der dunklen Nacht, sondern auch drinnen beim Festmahl zieht ein gewaltiger Sturm auf und die Anwesenden werfen Anstand und Etikette über Bord und lassen dem Chaos freien Lauf …

Die Autorin Sadie Jones hat mit “Der ungeladene Gast” einen wahrlich außergewöhnlichen und charakterstarken Roman erschaffen, der zuerst etwas verwundert, aber später überrascht und vor allem durch seine Ungewöhnlichkeit sehr begeistert. Zu Beginn habe ich mir mit dem Schreibstil etwas schwer getan, denn lange und zudem sehr verschachtelte Sätze erfordern die volle Aufmerksamkeit beim Lesen. Aber ich hatte das Gefühl, dass genau dies beabsichtigt war, denn dadurch konnte und musste man sich bewusst die vielen verschiedenen Charaktere einprägen.

Ich hatte zunächst keine Ahnung, was mich überhaupt erwarten wird, wohin die etwas geheimnisumwobene Geschichte mich führen wird und gerade dies förderte meine Neugierde um so mehr. Was hat es mit diesen mysteriösen, etwas heruntergekommenen Zugpassagieren auf sich, die sich scheinbar stündlich zu vermehren scheinen? Und woher kommt dieser geheimnisvolle Fremde, der sich durch geschickte Manipulation von Clovis wie selbstverständlich einen Platz am Festtagstisch gesichert hat?

“Charlie Traversham-Beechers. Ich glaube, Sie haben mich bereits erwartet”

Er strahlt etwas aufdringliches, leicht Abstoßendes aus und ich hegte zunächst sehr wenig Sympathien für diesen Charakter, was durchaus beabsichtigt zu sein schien. Später jedoch überlegte ich mir genau, was diesen Mann zu seiner ungewöhnlichen Tat bewegte und ich konnte sein Verhalten etwas (wenn auch wenig) nachvollziehen. Auch für den hitzköpfigen Clovis konnte ich mich nicht sehr erwärmen. Er erschien mir zu arrogant und oberflächlich. Ganz anders Emerald, die krampfhaft versucht, alles im Lot zu halten, eine Lösung für die vielen Probleme zu finden, die quasi einen Spagat zwischen dem Standesdünkel ihrer Mutter und den gestrandeten Passagieren macht. Die Mutter Charlotte mag sich nicht mit der Situation abfinden oder gar anfreunden. Sie empfindet die gestrandeten Passagiere einfach nur als störend und als Last. Sie lebt ihren Standesdünkel aus und die ganze Situation ist unter ihrer Würde. Dadurch erscheint sie ebenfalls sehr oberflächlich und überheblich. Aber auch ihr werden an diesem Wochenende der ganz besonderen Art die Augen geöffnet.

“Sie kam sich vor wie eine große Uhr mit offener Rückseite; ihr Ziffernblatt bestand aus Perlmutt, Diamanten und goldenen Zeigern, aber innen enthielt das Gehäuse nur schmutzige alte Eisenteilchen. War alles, was so wundervoll erschienen war, wirklich nur das? Nur diese Federn? Nur diese winzigen Schräubchen? Nur diese Zahnräder?”

Ganz besonders hat es mir, wie vielen anderen Lesern auch, die kleine Imogen, liebevoll “Smudge” von der Familie genannt, angetan. Fast erscheint es, als würde der Roman aus zwei Geschichten bestehen, die sich später miteinander verbinden. Zum einen das rauschende Fest – zum anderen Smudge und ihr ganz besonderes Hobby, welches sie völlig vereinnahmt und fordert. So plant sie, während den Feierlichkeiten “Das große Unterfangen”, ihre bisher größte Herausforderung in ihrem Hobby. Dieses “große Unterfangen” amüsierte mich ungemein und lockert zudem die ganze Atmosphäre des Buches auf. Beides scheint jedoch fast gleichzeitig zu eskalieren, das Fest als auch das “große Unterfangen” – und so vereinen sich beide Handlungssträngen wieder zu einem und das Chaos nimmt seinen Lauf.

Nach etwa der Hälfte des Buches nimmt die Geschichte zudem eine äußert überraschende und vor allem unerwartete Wendung, mit der ich beim besten Willen nicht gerechnet hätte und genau das begeisterte mich sehr. Dieser Genremix, der mich hier plötzlich erwartet, ist sehr originell und vor allem sehr gelungen dargestellt.  Ich möchte aber nicht weiter darauf eingehen, um nicht die Spannung zu rauben, indem ich hier womöglich zu viel verrate.

Mein persönliches Fazit:

“Der ungeladene Gast” ist ein äußerst origineller, äußerst gelungener Roman, der mich sehr begeisterte. Viele plötzliche Wendungen im Geschehen und besondere Überraschungen machen dieses Buch einfach zu einem faszinierenden Leseereignis. Hier prallen zwei Gesellschaften aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten und wieder einmal wird klar, dass ein jeder vorgeführt werden kann, dass besondere Situationen den wahren Kern eines Menschen auch außen kehren können. Das besondere Situationen aber auch die Augen über einen selbst öffenen können. Ein Buch, dass unterhält, dass fasziniert – und doch auch mit seiner gesellschaftskritischen Komponente gleichzeitig zum Nachdenken anregt. Ich kann dieses Buch uneingeschränkt an alle jene empfehlen, die sich gerne durch unerwartete Wendungen überraschen lassen, und die gerne einmal eine mystisch angehauchte Zeitreise In die Anfangszeit des zwanzigsten Jahrhunderts unternehmen möchten.

© Rezension: Alexandra

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