Eine Sensation! Hercule Poirot ermittelt wieder. 1920 erschien der ersten Kriminalroman von Agatha Christie. Jetzt haben die Erben erstmals der Veröffentlichung eines neuen Romans zugestimmt, der die beliebteste Figur der Schriftstellerin wieder zum Leben erweckt.
Die Bestsellerautorin Sophie Hannah ist seit ihrem dreizehnten Lebensjahr ein großer Fan von Agatha Christie: “Es ist Hercule Poirot und Miss Marple zu verdanken, dass ich Krimiautorin geworden bin. Ich fühle mich unendlich geehrt, dass man mir dieses wunderbare Projekt anvertraut hat.”
Struktur: Der Roman gliedert sich in 25 Kapitel, die wie kurze Einzelgeschichten betitelt sind, wie eine Sammlung, aus der sich das Werk konstituiert, wie ein Brauch aus vergangener Zeit. In aktuellen Romanen übliche Orts- oder Zeitangaben entfallen vollständig, was die Notwendigkeit der Lokalisierung in den Hintergrund rückt. Als Ich-Erzähler fungiert ein junger Scotland Yard-Agent namens Edward Catchpool, der das Wirken Hercule Poirots beobachtet und minutiös wiedergibt. Dabei scheint es nicht die primäre Intention dieser Erzählerpersönlichkeit zu sein, die Handlung möglichst rasch und präzise voranzutreiben. Stattdessen verfällt er regelmäßig in gedankenverlorenes Plaudern, läßt Anekdoten einfließen, kommentiert Situationen. Die Autorin erhält somit die Gelegenheit, das Fiktive des Romans zu relativieren, kann ihn als den Bericht eines Zeitzeugen darstellen.
Die einzelnen Szenen bergen wenig Dynamik, Ortswechsel sind selten, die Handlung entwickelt sich überwiegend in Dialogen. Somit könnte der Roman auch als Vorlage für ein Theaterstück gelesen werden, wo das Gewicht in Shakespeare’scher Tradition auf der Figurenrede liegt. Hier werden keine wissenschaftlichen Tatortanalysen durchgeführt, atemlose Verfolgungsjagden entfallen gänzlich. Hercule Poirot doziert und deduziert, die Aufklärung des Mordfalles wird zum sokratischen Frage-Antwortspiel stilisiert, bei dem Catchpool als sich persönlich zurücknehmender Stichwortgeber fungiert.
Als handwerklich sauber ausgearbeitet präsentiert sich die Handlung um einen Mehrfachmord und den bei den Opfern drapierten Manschettenknöpfen mit eingeprägtem Monogramm. Geschickt konstruierte Wendungen, die den Leser in die Irre führen, dürften nicht fehlen, gegenüber den Christie’schen Geschichten wirken die “Monogramm-Morde” jedoch weniger kompakt.
Kann es eine junge britische Autorin im 21. Jahrhundert mit der Grande Dame der Whodunnit-Krimis aufnehmen, der es in ihren Geschichten um Hercule Poirot und Miss Marple jedes Mal gelingt, den Leser an der Nase herumzuführen und ihn am Ende mit Aha-Erlebnissen zu überraschen? Sophie Hannah sieht sich in ihrem Roman mit der Grundsatzfrage “Innovation oder Imitation” konfrontiert – und entscheidet sich für eine schnörkellose, bescheidene Hommage. Bereits der Titel “The Monogram Murders” erinnert unweigerlich an “The A.B.C. Murders”, einen der populärsten Fälle Poirots. Der Anspruch, aus dem Schatten des Vorbilds herauszutreten, wird erst gar nicht erhoben. Hannah verleiht ihrer Sprache einen leicht verstaubten Duktus, läßt gegenüber der Figur des Meisterdetektivs größere Distanz walten als Christie selbst, wie um einen Respektabstand einzuhalten. Wo Poirot in den Erzählungen seiner geistigen Mutter von einem Ich-Erzähler namens Arthur Hastings begleitet wird, läßt Hannah den Leser durch die Augen einer neu eingeführten Figur blicken. Daß Edward Catchpool dem Belgier in keiner Weise das Wasser reichen kann, steht nie außer Zweifel, was auch die Rolle einer Schülerin in ihrem Metier repräsentiert, in der sich Sophie Hannah gegenüber Agatha Christie, ihrer bewunderten Autorin aus Jugendtagen, sehen mag.
Im Gegensatz zu modernen Interpretationen von Sherlock Holmes wird auf eine Modernisierung verzichtet, der Roman wird in den 1920er-Jahren mit all ihren Rahmenbedingungen belassen. Die Abwesenheit moderner Informations- und Kommunikationstechnologie wirkt dabei für eien aktuellen Krimi ungewohnt, verlängert sie doch die zurückzulegenden Wege. Dadurch wird die Handlung angenehm entschleunigt, der Fokus auf einen brillianten Geist als wertvollstes Werkzeug zur Lösung des Falles gelegt.
Wie um die Wiedererkennbarkeit zu gewährleisten, sind auch die Persönlichkeitsmerkmale Hercule Poirots obligat, die zwar herausgearbeitet, nicht karikierend überzeichnet werden: So muß er zuweilen richtigstellen, daß er Belgier und kein Franzose ist, läßt sich bewußt viel Zeit zum sorgfältigen Entwicklen seiner Gedanken und verziert seine Ausführungen immer wieder mit Redewendungen in französischer Sprache. Die Autorin beschränkt sich hierbei allerdings auf rhetorische Füller wie “alors”, “mon ami” oder “n’est-ce pas”, ganz im Gegensatz zu Christie, die den Detektiv oft ganze Monologe in seiner Muttersprache vortragen ließ.
Persönliches Fazit:
Sophie Hannah schafft einen gemütlichen Whodunnit-Roman im alten Stil mit bewußt verstaubt wirkender Sprache, der am besten mit einer Tasse Schwarztee vor dem offenen Kamin zu genießen ist.
© Rezension: 2014, Wolfgang Brandner
Atlantik Verlag - ISBN: 9783455600162
gebunden, 368 Seiten