Aus den Danksagungen am Ende des Buches erfährt man von der Freundschaft des Autors mit Michael Tsokos, Professor an der Berliner Charieté und Leiter der Rechtsmedizin, der bereits als Co-Autor für Sebastian Fitzeks “Abgeschnitten” fungierte.
Aha.
Daher also weht der Wind.
Veit Etzold scheint eine besondere Faszination für das Morbide, die menschliche Veränglichkeit in all ihren Ausprägungen zu hegen. Anders ist es wohl kaum zu erklären, daß er sich so hingebungsvoll seinen Nachforschungen zu dem Thema widmete, wie es im Roman in und zwischen den Zeilen zu erkennen ist. Einen speziellen Zugang dürfte er wohl auch in seiner Frau Saskia, einer Gerichtsmedizinierin im Team von Michael Tsokos finden.
Gründliche Recherche, sowie die akribische Vor- und Aufbereitung des gewonnenen Wissens gehört zum Handwerkszeug eines guten Autors. In welchem Ausmaß dieses in weiterer Folge in den Roman einfließt, ist eine Frage des Gespürs und scheidet Handwerk von Kunst. Profitiert die Geschichte von ausufernden wissenschaftlichen Ausführungen, oder liegt die Würze in der Kürze? Ist das Sachgebiet für den Leser interessant genug, daß ein Wechsel in die Textsorte Lexikonartikel seinen Wissensdurst stillt, er durch die Lektüre einen persönlichen Wissensgewinn verbuchen kann? Dienen entsprechende Passagen als Stilmittel, etwa um Tempo oder Spannung zu regulieren?
Um gleich bei der letzten Frage zu bleiben, des Eindrucks, nicht der Leser sei Etzolds intendiertes Publikum, kann man sich kaum erwehren. Vielmehr wirkt der Autor wie ein Gastwirt, der selbst sein bester Kunde ist, der Roman wie ein belletristischer Beleg seines Vergnügens am Vergänglichen. Da werden Fäulnisprozesse menschlicher Leichen in all ihren Stadien geschildert, Organe aus aufgeschnittenen Torsi gezerrt und mit makabren Bemerkungen quittiert. Seitenlange Beschreibungen von Foltermethoden wechseln sich mit jenen ihrer Ergebnisse, sodaß die Ermittler und Pathologen sich oft erst durch eine unappetitliche Mischung aus Körperflüssigkeiten kämpfen müssen, ehe die exakte Todesursache festgestellt werden kann. Über die exakten biochemischen Abläufe im Krematorium erfährt der Leser dabei ebenso viel wie über die Etymologie der an der Vewesung beteiligten Stoffe.
Und zu welchem Zweck? Die Anzahl jener Leser, die sich von derart expliziten Darstellungen abgestoßen fühlen, dürfte jene der Leser übersteigen, die dadurch eine persönliche Bereicherung erfahren. Aus dem Wesen der Geschichte selbst ist dieser Detaillierungsgrad nicht zu rechtfertigen, eine bewußte Erzeugung von Gegensätzen kaum zu erkennen. Gelingt es dem Autor vorerst noch, das Tempo der Erzählung durch Ausflüge an den Seziertisch zu drosseln, wirken diese rasch wie ein bewußtes Bremsen. Zahlreiche Wiederholungen unappetitlicher Details tragen nur insofern zur Spannung bei, als daß sie mit Ungeduld erfüllen. Des Dozierens wird man recht bald überdrüssig, und der offensichtlich zur Auflockerung eingeflochtene Sarkasmus wirkt oft unangebracht. Auch, wenn der Autor mit humanistischer Bildung demonstrieren will, daß seine Interessen keinewegs einseitig sind, er aus Dantes Göttlicher Komödie und aus Shakespeare-Sonetten zitiert oder um Goethes letzte Worte weiß, wird der Roman dadurch keineswegs intellektueller.
- Wer ist Clara Vidalis?
- Was ist das Besondere an dieser Figur?
- Warum ist gerade sie mit dem Fall des Todeswächters betraut?
Áuch nach Antworten auf diese Fragen sucht man während der Lektüre vergeblich. Durfte sie in “Final Cut”, dem ersten Band der Reihe mit ihrem psychologisch geschulten Verstand maßgeblich zur Lösung des Falles beitragen und im Nachfolger “Seelenangst” noch glaubhaft an ihren nicht-körperlichen Wunden leiden, wirkt sie in “Todeswächter” austauschbar und beliebig. Abgesehen von der klischeehaften Angewohnheit, den Alkohol einem geschulten Experten zur Psychotherapie vorzuziehen, weist sie nur mehr wenig an individuellen Merkmalen auf, die sie zur Jagd auf gerade diesen Mörder prädestinieren. Dieses Schicksal teilt sie mit ihren ermittelnden Kollegen, die sich nur mehr durch die Berufsbezeichnungen unterscheiden. Selbst der ob seiner Vorliebe für Shakespeare mit dem Spitznamen “MacDeath” ausgestattete Profiler darf sein exzentrisches Potential nicht mehr ausspielen. Die Mitglieder des Teams wirken seltsam schwer von Begriff, sodaß ihre Nachfragen zum längst Offensichtlichen lediglich als Stichworte für abermalige Erklärungen etwa zur Beschaffenheit menschlichen Blutes dienen.
Ein emotionaler Höhepunkt sei dem Roman jedoch angerechnet: Als der spätere Serienmörder im Kindesalter seine zu Tode getretene Mutter auffindet und die Nacht bei ihr verharrt, ehe er von den Einsatzkräften traumatisiert aufgefunden wird, hat der Leser mit den Tränen zu kämpfen.
Persönliches Fazit
Der dritte Teil der Clara Vidalis-Reihe liest sich wie eine Ansammlung von Artikeln aus einem pathologischen Lexikon, in deren Zwischenräumen die Ermittlungen zu mysteriösen Morden stattfinden dürfen. Insgesamt verhalten spannend, langatmig, oft jedoch unmotiviert abstoßend.
© Rezension: 2015, Wolfgang Brandner
Thriller
Bastei Lübbe Verlag - ISBN: 9783838754017
2014
ebook, 445 Seiten