Kurze Kapitel, häufige Perspektivenwechsel, offene Enden. Das ist das bewährte Rezept, nach dem Thriller funktionieren, und Vincent Kliesch ist sich dessen voll und ganz bewußt. Daß er kein Freund filigraner Whodunnit-Gespinste ist, erklärte er bereits in einem Interview. So ist dem Leser der Antagonist, ein zwanghafter Ordnungsmensch mit Vaterkomplex auch von Beginn an namentlich bekannt und wird dem Kommissar Severin Boesherz, einem feinsinnigen Wein- und Opernliebhaber gegenübergestellt. Daß die beiden aufeinandertreffen werden, ist so sicher wie der letale Ausgang der Geschichte für den Mörder, offen verbleibt nur, wann und unter welchen Umständen dies geschehen wird.
Das Konzept zum Spannungsaufbau funktioniert zuverlässig aufgrund treuherziger Schemagehorsamkeit, abgesehen von den beiden Hauptfiguren ist keine sonderlich scharfe Figurenzeichnung zu erwarten. Während auf der einen Seite die Opfer ihrer Verfehlungen gegen die Gesellschaft angeklagt werden und als Exempel dienen, fungiert die junge Beamtin auf der anderen Seite als zuverlässige Stichwortgeberin für Boesherz. Dessen dritte Leidenschaft – neben Tristan und Traubensaft – besteht übrigens darin, seinen Kollegen und damit auch dem Leser seine Erkenntnisse vorzuenthalten, um durch den Wissensvorsprung zu brillieren. Was nun von seinen Mitstreitern als exzentrisch-oberlehrerhafter Wesenszug ausgelegt wird, muß der Leser zwangsläufig als an die Kopie grenzende Anspielung an den berühmtesten Detektiv der Literaturgeschichte interpretieren: Sherlock Holmes nämlich liebt das Doziern und Deduzieren mindestens genauso wie Severin Boesherz, und da dem Autor rituelles Pfeifenstopfen womöglich doch zu anachronistisch erschienen wäre, ersetzt er es durch genüßliches Dekantieren.
Ist “Bis in den Tod hinein” also als austauschbarer Sommerthriller einzustufen?
Ja und Nein.
Denn obwohl Form und Inhalt zwar der Episode einer amerikanischen Krimiserie, Abteilung Psychologie (im Gegensatz zur Pathologie) entsprechen, vermeint man doch zuweilen den Autor zwischen den Zeilen über besagtes Schema schmunzeln zu sehen. Als sarkastische Spitze darf ein kurzer Blick hinter die Kulissen von Castingshows im Fernsehen gelten …
Außerdem wirkt Severin Boesherz als Kommissar ungewohnt polarisierend. Besserwisserei oder Brillianz? Die Beantwortung bleibt beim Betrachter. Interessanterweise trägt Boesherz außerdem Wesenszüge, die aus den drei Vorgängerromanen um Kommissar Julius Kern am ehesten dessen Nemesis Tassilo Michaelis zuzuordnen sind. Dieser mordet sich zwar mit außergewöhnlicher Grausamkeit an die Spitze der Fahndungsliste, erweist sich jedoch in seinem “Zivilberuf” als Chefkellner als kultivierter, kulinarisch feinsinniger Zeitgenosse. Dem Autor mag man dies als Entwicklung auslegen: Mit dem Beginn einer neuen Reihe überträgt er in einer Form von Reinkarnation jene Anliegen, die ihm als ehemaligem Restaurantkritiker wichtig sind, auf eine neue Figur.
Persönliches Fazit
Mit dem Auftakt einer neuen Serie bietet Vincent Kliesch Hochspannung in bewährter Form, verzichtet jedoch auf die Überzeichnung der Julius Kern-Reihe, was dem Roman eine düsterere Atmosphäre verleiht.
© Rezension, 2015 Wolfgang Brandner
Thriller
Blanvalet Verlag - ISBN: 9783442377985
2013
Klappenbroschur
4 comments
Auch wenn ich das Buch noch nicht kenne, es reizt mich!
Und mir stellt sich die Frage, gab es einen Schlüsselimpuls für die Story mit den Zahlen?
Überhaupt, wie sieht so der Werdegang einer Geschichte aus? Schreibst Du Ideen auf und entwickpelst sie irgendwann weiter?
Ich freu mich aufs Interview:-)
Lieben Gruß
Bine
Im Interview gehe ich auf diese Fragen ein. Schon vorab: Die Geschichte aus “Bis in den Tod hinein” war ursprünglich als Parabel auf den “Struwwelpeter” konzipiert. Warum das schließlich nicht offen im Text thematisiert wird, erfährst Du morgen. 🙂
Ich hab kein Glück mit meinen Fragen 😉 Aber danke fürs blitzschnelle Antworten!
Gibt es eigentlich ein Buch, dass Du selbst gern geschrieben hättest oder wo Du selber als Thrillerautor denkst, was mag da in demjenigen vorgegangen sein, der sich das ausgedacht hat?
Ich bin wirklich auf morgen aufs Interview gespannt 🙂
Liebe Grüße und danke für die ganze Woche!
Bine
Ich hätte gern die Hannibal-Lecter-Romane geschrieben. Die sind in meinem Augen das Beste, was es in dem Genre zu lesen gibt. Und natürlich ist auch mein Tassilo nicht ohne Einflüsse von Hannibal geblieben, wenn er auch ganz bewußt kein Abklatsch geworden ist. 🙂