Wie hört man auf, ein Fußabstreifer zu sein?
Ruby ist die gute Seele der Familie, sie hilft, wo sie kann, und stellt ihre eigenen Bedürfnisse zurück – »Fußabtreter spielen« nennt ihre Freundin Tia das. Und mit ihrer Lese- und Rechtschreibschwäche steht Ruby auch in der Schule oft in der letzten Reih. Doch um ihr großes Ziel zu erreichen und mit dem Schüleraustauschnach Brasilien zu fahren, nimmt sie endlich all ihren Mut zusammen, zeigt Rückgrat, setzt ihre Talente ein und überwindet alle Widerstände. Danach ist für Ruby nichts mehr wie zuvor – auch nicht für ihre Familie. Ein lebhaft geschriebenes Buch voller Optimismus, das zeigt, dass man über die größten Hindernisse hin weg seine Träume erreichen kann. Mit nützlichen Adressen und Ansprechpartnern zu Legasthenie im Anhang. (Text & Coverbild: © Knesebeck Verlag)
Die 14-jährige Legasthenikerin Ruby hat es nicht leicht. In der Schule tut sie sich schwer mit den anderen mitzuhalten und Zuhause wird sie von ihrer Familie mehr als Haushaltshilfe behandelt statt als Tochter und Schwester. Sie unterstützt ihre berufstätige Muster gerne und mag auch ihre beiden kleinen Brüder sehr aber ab und an möchte auch sie etwas Anerkennung und Liebe spüren und nicht immer als dummes Mädchen behandelt werden, vor allem nicht von ihrem älteren Bruder Max, der hervorragende Noten mit nach Hause bringt und zudem Mamas Liebling ist. Max bekommt alles was er möchte – so nun auch Rubys Zimmer, weil er sich ja konzentrieren muss. Ruby soll mit ihren beiden kleinen Brüdern ein Zimmer teilen. Zähneknirschend stimmt sie zu, weil sie sich nicht wehren kann. Als sie dies ihrer besten Freundin Tia erzählt, wies dies richtig sauer.
Tia kann und will nicht mehr mit ansehen, wie Ruby sich von ihrer Familie ausnutzen lässt und wendet eine drastische Maßnahme an. Sie kündigt Ruby quasi für den Moment die Freundschaft, bis sich etwas ändert.
Sie lachte nicht, sondern stapfte zur Tür. »Ich gehe jetzt. Und weißt du was, Ruby Yarrow? Ich rede erst wieder mit dir, wenn du dir ein Rückgrat zugelegt hast.
Das mag zuerst einmal hart und unfair klingen, aber zuletzt ist dies genau der Anstoß, den Ruby brauchte. Ihre Freundin war schon immer ihr Rettungsanker, ihre Zuhörerin und das möchte sie nicht verlieren. Sie nimmt sich Tias letzte Worte sehr zu Herzen und tatsächlich gerät ein Stein ins Rollen.
In ihrem Inneren tobt ein Kampf. Sie möchte sich so gerne zur Wehr setzen und sich behaupten. Sie möchte, dass auch ihr toller und begabter Bruder mal etwas im Haushalt machen und seinen Beitrag leisten muss. Dass er nicht immer verhätschelt wird, während sie am Rande steht und nur unbewusst wahrgenommen wird. Sie kocht, geht einkaufen, sie räumt auf, sie kümmert sich um ihre kleinen Brüder während ihr Bruder ein und ausgeht, wie er gerade möchte.
Das schlimmste ist allerdings, dass ihre Mutter keinerlei Erwartungen in sie hat, dass sie davon ausgeht, dass ihre Tochter es eh zu nicht viel im Leben bringen wird, weil sie ja Legasthenikerin ist. Statt Ruby zu pushen und sie zu fördern untergräbt sie eher ihr Selbstbewusstsein und hält sie klein, ja sie bemitleidet sie sogar. Alle Energie und Förderung wird dem Bruder zuteil, der ja immer gute Noten mit nach Hause bringt.
Da hat auch ihr Stiefvater nicht viel Einfluss darauf, auch wenn er es immer wieder versucht und Ruby zur Seite steht.
Ruby will und muss sich endlich zur Wehr setzen, aber wie macht man das?
Tia hatte Recht. Ich bin ein Fußabstreifer.
Wie hört man auf, ein Fußabstreifer zu sein? Sagt man einfach zu seiner Familie: Übrigens, Leute, ich bin kein Fußabstreifer mehr? Das wird wohl kaum genügen.
Ruby macht sich viele Gedanken darüber und wagt tatsächlich den schweren Schritt, ihrer Mutter zu widersprechen. Als in der Schule zudem der nächste Schüleraustausch mit Brasilien geplant wird, fasst Ruby eine große Entscheidung. Dass es in diesem Bauch um ein Legasthenikerschicksal geht, kann man schon der wunderbar passenden Covergestaltung entnehmen. Verschlungene Buchstaben und Worte machen das Lesen schwer. Ruby erzählt ihre Geschichte selbst in der ich-Form und dies ermöglicht einen guten Einblick in ihre Gedanken und Gefühle. Was macht ihr am meisten zu schaffen? Ist es die Legasthenie oder ist es mehr die fehlende Akzeptanz in ihrer Familie? Dass ihre Familie glaubt, dass – im Gegensatz zu ihrem Bruder – die Zukunft nichts bieten kann? Rubys Selbstwertgefühl ist quasi gar nicht vorhanden, da sie aus familiärer Sicht keinerlei Unterstützung und Ansporn erfährt. Erst ihre Freundin Tia verpasst ihr den obligatorischen “Tritt in den Hintern” der ihr die Augen öffnet. Sie lernt Menschen kennen, die sie schätzen und die ihr mit zusprechen. Die ihr eine Perspektive bieten und genau das braucht sie.
Persönliches Fazit
Ein sehr gelungenes Jugendbuch rund um das Thema Legasthenie und Selbstbewusstsein. Sehr schön ist, dass hier die komplexe Situation Schule-Familie-Freizeit Beachtung findet und Ruby selbst aus ihrem Leben erzählt, denn so kann man sich richtiggehend in sie hineinversetzen. Eine Geschichte, die Mut macht und aufzeigt, dass man sich im Leben nicht alles gefallen lassen muss. Dass man sich auch einfach mal wehren darf und soll. Und dass ein Handycap zwar vorhanden ist, aber nicht unmittelbar das ganze Leben permanent beeinflussen muss. Dass es immer Möglichkeiten und Wege gibt, wenn man denn will. Wenn man den Mut findet, sich zu wehren und zu sagen: “Ich schaffe das!”
Mit einem Nachwort von Dr. Edith Klasen, Trägerin des Bundesverdienstkreuzes (2009) für ihre Förderung von Legasthenikern und ihr Wirken im Arbeitskreis Legasthenie Bayern e.V., sowie nützlichen Adressen und Ansprechpartnern rund um das Thema Lese- und Rechtschreibschwäche.
© Rezension: 2015, Alexandra Zylenas
4 comments
Ich hab schon viel Positives über dieses Buch gelesen, es rückt auf meiner Wunschliste immer weiter nach oben. 🙂
Danke für's Vorstellen!
Sehr gerne, freut mich dass es dir zusagt. Das Buch lohnt sich wirklich sehr.
Sonnige Grüße! Alexandra
Mensch, dieses Buch sehe ich gerade ehrlich gesagt das erste Mal und nachdem ich mir deine Rezension durchgelesen habe, möchte ich es unbedingt lesen. Jugendbücher beschäftigen sich in letzter Zeit öfter mit solchen sensiblen Themen, wobei Legasthenie bisher nicht wirklich oft literarisch behandelt wurde. Darum bin ich jetzt umso neugieriger und setze es gleich mal auf die Liste für dieses Jahr.
Danke liebe Alexandra, du hast mich gerade ein neues Buch entdecken lassen ♥
Liebe Grüße
Sandra
Liebe Sandra,
mir hat es sehr gut gefallen, zumal das Thema nicht so extrem dominierend behandelt wird. Hier wird ein Licht auf die gesamte Lebenssituation der Portagonistin geworfen und wie sie mit den Dingen umgeht.
Ich finde, es lohnt sich, da es gut umgesetzt wurde, ohne bealstend zu wirken und ich kann es nur empfehlen.
Liebe Grüße, Alexandra 🙂