Rezension || Eisige Schwestern | S. K. Tremayne

by Wolfgang Brandner
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Ein Jahr nachdem die sechsjährige Lydia durch einen tragischen Unfall ums Leben kam, sind ihre Eltern Sarah und Angus psychisch am Ende. Um neu anzufangen, ziehen sie zusammen mit Lydias Zwillingsschwester Kirstie auf eine atemberaubend schöne Privatinsel der schottischen Hebriden. Doch auch hier finden sie keine Ruhe. Kirstie behauptet steif und fest, sie sei in Wirklichkeit Lydia, die Eltern hätten den falschen Zwilling beerdigt. Bald hüllen Winternebel die Insel ein, Angus ist beruflich oft abwesend, und bei Sarah schleicht sich das unheimliche Gefühl ein, etwas stimme nicht. Zunehmend fragt sie sich, welches ihrer Mädchen lebt. Als ein heftiger Sturm aufzieht, sind Sarah und Kirstie komplett isoliert und den Geistern der Vergangenheit ausgeliefert. (© Text und Bild: Droemer Knaur Verlag)

Was hat es mit den standfesten Behauptungen Kirsties, sie sei in Wirklichkeit ihre ums Leben gekommene Zwillingsschwester Lydia, auf sich? Handelt es sich um Seelenwanderung? Wird der Leser gemeinsam mit den Eltern Zeuge der Entwicklung einer multiplen Persönlichkeit? Oder wurde tatsächlich die falsche Tochter beerdigt? Mit diesen Fragen konfrontiert der britische Autor S. K. Tremayne in seinem Debütroman sein Publikum immer wieder. Schon das Cover lockt mit schaurig-symmetrischer Symbolik. Dem Rahmenelement der Handlung, der Übersiedelung der Familie auf eine einsame schottische Insel, kommt vielschichtige Bedeutung zu: Mit dem neuen Wohnort wird eine Zäsur im Leben vollzogen. Statt einer kleinbürgerlichen Vorstadtszenerie wird jedoch ein aus dem Watt ragendes, den Elementen ausgesetztes Stück Land mit einem einsamen Leuchtturm gewählt. Bereits die geographischen Begriffe (übersetzt beispielsweise “Grat der Nachtmahre” oder “Hafen der von Gott Verlassenen”), “diese herrlichen, fließenden salzhaltigen gälischen Namen” mit ihren kehligen Lauten spiegeln bereits in der Sprache eine Trostlosigkeit wider, die man für einen hoffnungsvollen Neubeginn eigentlich meiden möchte.

Doch Kirstie – oder ist es doch Lydia? – weigert sich hartnäckig, ihre Rolle im neuen Idyll zu spielen. Der Hund verhält sich ihr gegenüber plötzlich seltsam, in ihrem Spiegelbild erkennt sie ständig die verstorbene Schwester, und selbst in der neuen Schule wird sie umgehend zur Außenseiterin. Als schließlich der Besuch einer gleichaltrigen Spielkameradin in einem Fiasko endet, sieht Sarah die Entwicklung eines gesunden Sozialverhaltens nachhaltig beeinträchtigt. Der Sturm, von dem im Klappentext die Rede ist, beansprucht im Gesamtkontext zwar weitaus weniger Raum, als zunächst impliziert wird, jedoch verleiht der Autor damit der Unruhe in Sarahs Innerem ein mächtiges äußeres Bild und läutet zugleich das Finale ein, in dem alle Täuschung hinweggefegt und ein verstörendes Familiengeheimnis freigelegt wird.

Die 28 Kapitel werden vorwiegend in erster Person aus Sicht Sarahs, der Mutter beschrieben, einzelne Kapitel in dritter Person mit Angus, dem Vater im Focus. Letzere Abschnitte wirken durch die Distanz weniger emotional gefärbt. Der Leser ist nicht auf die Wahrnehmung der Figur angewiesen, sondern darf sich auf eine neutrale Erzählerinstanz verlassen. Mit diesem geschickt eingesetzten Stilmittel verleiht der Autor den Teilen um Angus mehr Glaubwürdigkeit, die er damit zugleich auch Sarah aberkennt. Wenn bis zum Schluß lustvoll über die wahre Identität der überlebenden Tochter gerätselt werden kann, ist das Tremayne zuzuschreiben, der die hohe Kunst der Leserverwirrung betreibt. (Diese ist so ausgefeilt, daß der Autor selbst an zumindest einer Stelle in die Verwechslungsfalle tappt.)

Gleichzeitig rührt er im Plauderton auch an essentiellen Problemen, an denen sich bereits Generationen von Philosophen abgearbeitet haben. Bei einer selbst für eineiige Zwillinge ungewöhnlichen äußerlichen Ähnlichkeit werden scheinbar auch Name und Identität austauschbar. Kann Kirstie von einem Moment auf den anderen zu Lydia werden und chamäleonartig ebenso rasch wieder zurückwechseln? Welche Folgen hat es für die ein Kind, wenn selbst die Eltern ob seiner Identität verunsichert sind? Und welche Bedingungen müssen erfüllt sein, um als Individuum zu gelten? Schrödingers Katze nimmt hier die Form eines siebenjährigen Mädchens an, dessen wahre Identität nicht beim Aufklappen der Kiste, sondern beim Zuklappen des Buchdeckels nach der letzten Seite bestimmt wird. Oder, um es mit den Worten des Autors auszudrücken: “… das fatale Spiel der Identitäten ist erstarrt wie eine Luftblase im Eis.”

Demzufolge lautet die zentrale Frage des Romans: Wer ist die überlebende Tochter wirklich? Für jeden Hinweis präsentiert der Autor einen Gegenhinweis, sodaß nicht nur die als Ich-Erzählerin fungierende Mutter, sondern schließlich auch der Leser verwirrt zurückbleiben. Anders als diese hat der Leser jedoch die Möglichkeit, sich auf eine rein beobachtende Position zurückzuziehen, der Auflösung harrend, einen Schritt zurückzutreten. Tatsächlich gelingt es dem Autor nicht, eine emotionale Brücke zur überlebenden Tochter zu errichten. Die Parallelen zwischen Kirstie und Lydia werden weitaus stärker betont als die distinktiven Elemente, doch gerade diese würden zu einer schärferen Profilierung, zu einer individuellen Persönlichkeit führen und somit Zuneigung oder Ablehnung erzeugen. In ihrem Verhalten weist die überlebende Tochter viel Befremdliches auf, verhält sich dem Titel entsprechend, als ein emotionaler Eisblock. Momente, in denen man das tiefe Bedürfnis empfindet, dem traumatisierten Kind Trost zu spenden, sind selten, die Mutterliebe muß vorausgesetzt, kann aber nur in geringem Ausmaß nachvollzogen werden.

 

Persönliches Fazit

Der Autor betreibt Leserverwirrung auf hohem Niveau in einer trostlosen Szenerie.
Bedingt durch das Thema wird jedoch der Leser emotional zu wenig berührt, sodaß dieses Spiel nicht voll ausgekostet werden kann.

© Rezension, 2015 Wolfgang Brandner

 

Eisige Schwestern
S.K. Tremayne
Psychothriller
Droemer Knaur Verlag - ISBN: 9783426516355
2015
Paperback, 400 Seiten
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