Du kennst sie nicht, aber sie kennt dich.
Sie beobachtet dich – und schleicht sich in dein Leben
Heisenberg meets Gone Girl
Drei Frauen im Londoner Vorortalltag, deren Schicksale kunstvoll miteinander verknüpft sind, das ist das zentrale Thema des Debütromans der Britin Paula Hawkins. Von letzten Wochenendträumereien am Montagmorgen bis zum Feierabend am Freitag, hier gibt die Eisenbahn den Takt der Menschen vor. Zuweilen unpünktlich, oft unerwartend anhaltend, wird das Verkehrsmittel als universelles Symbol der biographischen Entwicklung herangezogen. Das Fenster ist die Grenze zwischen dem Warten im Drinnen und dem vorüberziehenden Draußen. Durch die verschmutzten Scheiben nimmt die naive Rachel auch schlaglichtartig am Leben eines ihr unbekannten Paares teil, dem sie für sich die Namen Jess und Jason gibt und auf das sie all ihre Idealvorstellungen projiziert. Schließlich geschieht ein Verbrechen, die nicht für ihre Sensibilität bekannte britische Yellow Press zertrümmert Rachels Vorstellung, und sie muß erkennen, daß die Wirklichkeit niemals makellos ist.
Die größte Stärke der Geschichte ist ihre größte Schwäche: Von den drei Protagonistinnen taugt keine als Identifikationsfigur für den Leser. Keine von ihnen ist so sympathisch, daß man in dem kunstvoll entworfenen Intrigenspiel für eine von ihnen Partei ergreifen möchte. Zugleich wird dadurch auch keine von ihnen auf einem Podest plaziert, alle drei scheinen dem vorstädtischen Alltag entnommen, agieren oft mehr egoistisch denn altruistisch, neigen dazu, eher mit ihren Schwächen als mit ihren Stärken zu glänzen. Damit fügen auch sie sich wie eine weitere Eisenbahnschwelle zu den vielen anderen Elementen, die das Thema der Geschichte – die Sehnsucht nach einer Haltestelle im Alltäglichen – konstituieren.
Bereits im Vorfeld wurde “Girl on the Train” mit dem raffinierten Thriller “Gone Girl” von Gillian Flynn verglichen, und auch viele der Rezensenten können sich dem anschließen. Tatsächlich teilen sich diese beiden Romane ein zentrales Motiv: Eine junge Frau verschwindet spurlos, als Hauptverdächtiger eines möglichen Verbrechens gilt ihr Ehemann. Die Erzählung erfolgt dabei aus unterschiedlichen Perspektiven, wobei die jeweils subjektiven Wahrnehmungen viel Interpretationsfreiraum lassen. Während in “Gone Girl” der Leser durch eine Wendung nach dem ersten Drittel regelrecht aus dem Buch getreten wird, um danach dem süßen verbalen Gift der Autorin noch mehr zu verfallen, wird in “Girl on the Train” relativ schnell klar, daß der Hauptfigur Rachel nicht hundertprozentig vertraut werden kann. Der Zweifel schleicht sich eher in das Bewußtsein des Lesers, anstatt sich mit lautem Salut anzukündigen. Ein wesentlicher Unterschied in der Konstellation der beiden Romane besteht außerdem darin, daß bei Gillian Flynn die Rolle des Beobachters ausschließlich dem Leser überlassen wird. In “Girl on the Train” hingegen wird die Information zunächst durch den Blick der titelgebenden Pendlerin gefiltert, weitergereicht. Schließlich nimmt diese Beobachterin mit Scott, dem Mann der Verschwundenen, Kontakt auf, verläßt somit ihre passive Rolle und beteiligt sich aktiv am Geschehen. Man wird also mit einer narrativen Variante der Heisenberg’schen Unschärferelation konfrontiert: Der Beobachter verfälscht durch sein Eingreifen das Ergebnis. Der Roman erfährt also auf diese Wese neue Wendungen, während das Zusammenspiel der beiden Hauptfiguren in “Gone Girl” sich unbeeinflußt entwickelt.
Wenn schon Parallelen gezogen werden, so muß auch das Hörbuch berücksichtigt werden. Christiane Paul und Matthias Köberlin schlüpfen dabei paßgenau in die Rollen der Kontrahenten im ehelichen Stellungskrieg bei Gillian Flynn, erfassen die sarkastischen Untertöne und die sadistischen Rachegelüste. Durch die Verteilung auf eine weibliche Sprecherin und einen männlichen Sprecher ist aber stets klargestellt, welche der beiden Figuren gerade am erzählerischen Ruder agiert. Obwohl sich die drei Sprecherinnen in “Girl on the Train” deutlich um Individualität ihrer Figuren bemühen, erfordert ein rein weiblich besetztes Ensemble doch erhöhte Aufmerksamkeit, mehr Zeit, das Ohr an die Stimmen zu gewöhnen. Dieser Umstand liegt jedoch in der Natur des Romans und ist keineswegs seinen Interpretinnen zuzuschreiben. Die Rollen selbst sind hervorragend besetzt: Britta Steffenhagen verleiht der eher dem Alkohol als einer geregelten Tätigkeit zusprechenden Rachel ihre kratzige, zuweilen heisere Stimme, Christiane Marx gibt die kühl distanzierte Anna, und Rike Schmid zieht sich dezent in der Rolle der Megan zurück, die mehr als Objekt durch die Geschichte getragen wird.
Jedes der Kapitel des Romans ist einer zeitlichen Struktur unterworfen, die Untergliederung erfolgt nach Tageszeit in “Morgens”, “Mittags” und “Abends”. Damit reflektiert der ständig gleiche Aufbau die Eintönigkeit des alltäglichen Pendelns zwischen Vorstadt und Arbeitsplatz. Der Roman imitiert die zeitliche Taktung eines Zugfahrplans, jenes Schema, in das Rachel auf der verzweifelten Suche nach Normalität ihr Leben preßt. Der Autorin bietet diese Einteilung auch gleichzeitig die Gelegenheit, das Durchbrechen des Alltäglichen auch auf formaler Ebene zu signalisieren. Leider kann dieses Symbol triser Eintönigkeit in der Hörbuchfassung seine Wirkung nur mangelhaft entfalten. Wenn die Sprecherinnen die Zeit benennen, tritt der Wiedererkennungseffekt gegenüber der Printausgabe erst mit Verzögerung ein. Bis die Struktur als solche erkannt wird, wirkt daher diese Einteilung beliebig, ebenfalls eine Schwäche des Mediums. Die einzelnen Handlungsstränge spielen außerdem zeitversetzt, Megans Bericht deckt nicht denselben Zeitraum wie jenen der Hauptfigur Rachel ab. Zur Orientierung sind daher die einzelnen Kapitel mit einer Zeitangabe versehen. Wo in der Printausgabe daher leicht nachgeschlagen kann, ist dies im Hörbuch nicht ganz so leicht möglich. Auch aus diesem Grund ist erhöhte Aufmerksamkeit erfordert, einerseits, um sich diese Einteilung zu vergegenwärtigen, andererseits, um die einzelnen Teile richtig einordnen zu können.
Persönliches Fazit
“Girl on the Train” ist einer jener Romane, die man durchaus – in beiderlei Bedeutung – in einem Zug genießen kann. Als eine der interessanteren Debüts ist er auch einer, den man in diesem Jahr lesen sollte. Besser lesen als hören.
© Rezension, 2015 Wolfgang Brandner
Random House Audio
Hörbuch, gekürzt, 2mp3-CDs, ca. 640 Minuten, gelesen von Britta Steffenhagen, Rike Schmid, Christiane Marx