Es heißt, der zweite Roman sei für einen Autor der schwierigste.
Wie geht er damit um, wenn der erste ein Riesenerfolg war? Versucht er sich an einem ähnlichen Stoff und setzt sich der Gefahr aus, sich selbst zu kopieren? Wendet er sich einem gänzlich anderem Thema zu und riskiert dabei, Freunde des ersten Teils zu verschrecken?
Stephen Watsons Debüt “Ich. darf. nicht. schlafen.” verfaßte er unter Angabe der Initialen S. J. als Vorname, aus denen das Geschlecht nicht unmittelbar ableitbar war. Dies verlieh dem Briten die Freiheit, in erster Person über eine Frau zu erzählen, die jedes Mal von einem Tag auf den nächsten die Erinnerung an ihr Leben seit einem folgenschweren Unfall vor mehr als einem Jahrzehnt verliert. Anhand von Tagebucheinträgen erarbeitet sie sich jedoch stückweise das Wissen um eine gefährliche Intrige und jene Menschen aus ihrer Umgebung, die aus ihrer Amnesie Profit schlagen. Das Ergebnis ist eine raffinierte Schnitzeljagd nach der eigenen Identität.
Wie sollte es nun aber weitergehen? Sollte der Autor versuchen, das Leben seiner Protagonistin Christine fortzusetzen? Sollte er ein weiteres Mal eine Frau durch das Matryrium eines Gedächtnisverlustes schicken? Oder sollte er sich den Vergleichen entziehen und das Genre wechseln?
Watson wählt die goldene Mitte: Er behält die Erzählsituation – den Blick durch die Augen einer erwachsenen Frau – bei und setzt sie einer anderen Art der psychologischen Manipulation aus.
Nach dem Mord an ihrer Schwester kämpft die Londonerin Julia gegén die Hilflosigkeit an und begibt auf die Suche nach dem Mörder. Da die Ermordete bei Datingplattformen im Internet registriert war, liegt der Schluß nahe, daß ihr dies zum Verhängnis wurde. Ausgestattet mit einer schützenden zweiten Identität für ihre Online-Aktivitäten erstellt Julia zunächst eine Liste möglicher Verdächtiger und gerät schließlich an den verführerischen Lucas. Mit feinem Gespür schildert der Autor, wie sukzessive die schützende Mauer zwischen dem echten und dem virtuellen Leben zu bröckeln beginnt, wie Julia stückweise die Grenzen ihrer Handlungsbereitschaft erweitert. Wie der berühmte Frosch auf der Kochplatte weist sie immer mehr Merkmale eines Suchtverhaltens auf, verfällt schließlich der Obsession. Die unausweichliche Katastrophe tritt ein, als sich der harmlose Teilzeitliebhaber aus dem Chat als reale Bedrohung für Julias Familie erweist. Sorgfältig achtet der Autor bei all den Schilderungen der gegenseitigen Annäherung auch darauf, stets den psychologischen Aspekten Priorität vor den sexuellen einzuräumen. Will man einen Vergleich wagen, wird man also mehr Patricia Highsmith als “Shades of Grey” finden.
Die Hörbuchfassung wird von der deutschen Schauspielerin Andrea Sawatzki grandios gestaltet. Ihr Vortrag trifft dabei exakt den Charakter des Buches: Im ersten Abschnitt bewußt gelangweilt dahinplaudernd, steigert sie auch das Ausmaß der Emotion, das sie mit der Stimme transportiert. Mit Neugier, ein Hauch von Rachsucht und ganz viel Sorge, sowohl um die Familie, als auch um die Position im Leben, in der Londoner Gesellschaft stattet sie die Protagonistin Julia aus. Einzelne, der mondänen Grundstimmung geschuldete Längen vermag jedoch auch sie nicht zu überspielen.
Der Verlag seinerseits setzt in erster Linie auf Wiedererkennungswert. Analog zum Cover des ersten Bandes mit einem Nachtfalter und wie durch eine Linse verzerrter Schrift wurde auch hier auf ein geflügeltes Insekt und ein ähnliches Bild gesetzt. Wo der Titel des Debüts, “Before I Go To Sleep” in den eindringlichen Imperativ “Ich. darf. nicht. schlafen.” übersetzt wurde, wollte man auch im vorliegenden Teil auf die hämmernden Punktnotation nicht verzichten. So wird nun aus “Second Life” ein “Tu es. Tu es nicht.” Anstatt Parallelidentität wird das Gewicht auf Julias ständige Zweifel gelegt. Durchaus nicht unpassend.
Anders und doch vergleichbar, so präsentiert sich S. J. Watsons zweiter Roman um das Thema realer Verführung mit virtuellen Idenitäten. Unbeirrbar im Spannungsaufbau bleibt jedoch der Nervenkitzel oft sehr subtil.
© Rezension, 2015 Wolfgang Brandner
Argon Verlag
Hörbuch, ungekürzt, 13 Std. 19 Min., gelesen von Andrea Sawatzki