Was hält uns, wenn das eigene Leben in Gefahr ist? Nichts. Der internationale Bestsellerautor Markus Heitz nimmt sich in vier politischen Erzählungen der aktuellen Flüchtlingsproblematik an und bringt den Leser in gewohnt unterhaltsamer aber auch sozialkritischer Form zum Nachdenken. Als die ersten Geschichten entstanden, schrieb er noch von Fiktion – inzwischen hat ihn und unsere Gesellschaft die Realität eingeholt. Egal wie brutal und überspitzt Heitz schreibt, so ist das Leben und oft auch der Mitmensch neben uns im Handeln und Denken ungleich brutaler. [© Text + Cover: edel & electric]
Er hatte nichts gegen Ausländer. Als Touristen brachten sie Geld. Aber als Flüchtlinge brachten sie Probleme. Auch er dachte und redete so und deswegen wählte er seit Jahren rechte Parteien, die seinem Gedankengut entgegenkamen. Er gönnte jedem Menschen Glück, aber in dessen Heimatland.
Markus Heitz, das ist doch der mit den Zwergen und Todesschläfern, oder? In den entsprechenden Geschichten wird das Böse personifiziert, ist leichter greif- und bezwingbar. Die Phantastik bildet ein kreatives Modell der Wirklichkeit, Parallelen sind nur allzu oft erkennbar. Mit seiner aktuellen Anthologie aus soziologisch-satirischen Gedankenexperimenten wagt Heitz nun den Schritt zurück, von tatsächlichen Zwergen zu zwergenhaften Gemütern, von tatsächlichen Blutsaugern zu jenen, die der Gesellschaft das Leben aussaugen, von Seelenwanderern zu entseelten Strukturen.
Was wäre, wenn tausende Flüchtlinge aus den arabisch-afrikanischen Krisengebieten sich wohlorganisiert an den europäischen Küsten zum friedlichen Protest einfänden, um sanften politischen Druck zu erzeugen? Wie würden die unmittelbar betroffenen Mittelmeerstaaten und die etwas weiter entfernten USA reagieren? Mit der bereits 2008 entstandenen Kurzgeschichte “Der Nachbar” beweist Heitz jenen Weitblick, der den politischen Verantwortungsträgern derzeit zu fehlen scheint. Bereits vor sieben Jahren prophezeite Heitz das Verhalten Europas angesichts einer neuen Völkerwanderung: In die Ecke gedrängt wären Rückzug ins eigene Schneckenhaus und Gewalt die Mittel der Wahl.
In “Kommando Flächenbrand” skizziert Heitz den Aufstieg und Fall einer modernen Revolutionsbewegung. Von der ersten Idee über die Rekrutierung Gleichgesinnter, den mühsamen Aufbau autonomer Widerstandszellen bis hin zu fundamentalen Richtungsentscheidungen nach ersten Erfolgen stellt er exemplarisch die Frage nach den politischen Gestaltungsmöglichkeiten einzelner Bürger. Wie er im Interview im Anhang erläutert, kann er diesbezüglich auf eigene kafkaeske Erfahrungen verweisen. Der Form Kurzgeschichte geschuldet, wird da zuweilen simplifiziert. “Das System” verbleibt als ein schwer zu definierendes Feindbild im Diffusen, die Bewegung wird als eine Verlängerung pubertären Aufbegehrens entlarvt, dessen Feuer zwar heiß aber nur kurz brennt.
“Germany’s Next Auswanderer” beginnt zunächst als scharfe Satire auf Castingshows und deutsches Kleinbürgertum, dessen höchstes Glück in einer unkomplizierten, abgegrenzten Welt besteht. Das Prinzip “Brot und Spiele” funktioniert noch immer ausgezeichnet, wenn zwischen Fernsehnachrichten und Werbespots die eigenen Vorurteile kultiviert werden, meint man zwischen den Zeilen Neil Postmans Warnung vor unreflektiertem Medienkonsum zu vernehmen. “Breakfast where the news is read”, heißt es schon in einem Lied der Doors. Der Humor findet rasch sein Ende, unter dem Vorwand eines Gewinnspiels wird die Familie in die nordsyrische Stadt Aleppo verschleppt, wo der abstrakte, ferne Bürgerkrieg zur konkreten Gefahr wird. “Wie so oft im Leben”, schließt der Autor, “Was man nicht selbst erfahren hat, kann man nicht immer begreifen, gelegentlich nicht mal im Ansatz verstehen.”
“Die Letzte” schließlich spielt im Kosovo des Jahres 1999, wo ein Bundeswehroffizier ganz dem Veteranenklischee entsprechend, auf seinem letzten Einsatz vor der Heimreise noch eine Sprengfalle entschärfen muß. Waren es in den vorangegangenen Geschichten mangelnde Solidarität und Empathie, so thematisiert Markus Heitz diesmal die Gefahr durch Landminen als hydraartiges Kampfgerät. Und schließlich tritt die auf grundlegende Instinkte reduzierte Natur des Menschen zutage, wenn das eigene Überleben gesichert werden muß.
Mit einem Blick so scharf wie die Fangzähne seiner Vampire stellt Markus Heitz in seiner kleinen Anthologie der Gesellschaft mit ihren wirtschaftlichen und politischen Strukturen eine Diagnose: Das System ist an Korruption, Gier und Eigennutz erkrankt, die zur Initiierung des Heilungsprozesses erforderliche Empathie ist nicht in ausreichendem Ausmaß vorhanden. Die Therapie, die er zwar nicht explizit vorschlägt, aber exemplarisch durchexerziert, ist das Resultat eines Überlegungsprozesses. Wenn konventionelle Maßnahmen wirkungslos bleiben, besteht die Konsequenz darin, unkonventionelle zu erproben.
Persönliches Fazit
Kurzprosa zum Nachdenken, Markus Heitz überläßt es dem Leser zu entscheiden, wo die Satire endet und die Realität beginnt.
© Rezension, 2015 Wolfgang Brandner
Erzählungen
edel & electric - ISBN: 9783960290025
2015
ebook, ca. 200 Seiten