Elaine Dawson ist vom Pech verfolgt. Als sie nach Gibraltar zur Hochzeit einer Freundin reisen will, werden sämtliche Flüge in Heathrow wegen Nebels gestrichen. Anstatt in der Abflughalle zu warten, nimmt sie das Angebot eines Fremden an, in seiner Wohnung zu übernachten – und wird von diesem Moment an nie wieder gesehen. Fünf Jahre später rollt die Journalistin Rosanna Hamilton den Fall neu auf. Plötzlich gibt es Hinweise, dass Elaine noch lebt. Doch als Rosanna diesen Spuren folgt, ahnt sie nicht, dass sie selbst bald in Lebensgefahr schweben wird … [Text + Cover © Randomhouse Audio]
Gerüchten zufolge entstammt der Eifer der Briten beim Kolonisieren dem Bedürfnis, der regnerischen Tristesse ihrer Heimat zu entfliehen. Im Falle von Charlotte Link zieht diese Sehnsucht in die entgegengesetzte Richtung, sie fühlt sich von den britischen Inseln regelrecht angezogen. Gerade in Verbindung mit ihrem Namen, der genauso gut dem angelsächsischen Raum entstammen könnte, verleitet diese dieses Fernweh schlecht vorbereitete Journalisten immer wieder dazu, ein Interview auf Englisch zu führen.
Inhaltlich folgt “Die letzte Spur” exakt diesem Gedanken: Vordringlich für eine Reportage verläßt die Hauptfigur Elaine Dawson ihre Wahlheimat Gibraltar in Richtung des klimatisch weit weniger begünstigten Ärmelkanals. Tatsächlich gründen sich ihre Motive jedoch vielmehr auf alte Backsteinhäuser, die oft überstrapazierte Etikette und regnerische Nachmittage an einem ausladenden Kamin als ihre Arbeit. So gelangt Elaine bei einem Spaziergang durch das herbstliche London mit all den Parks und verstopften Straßen zur Erkenntnis: “Es ist meine Stadt, mein Leben.”
Die Geschichte selbst wirkt für das Genre relativ unspektakulär. Der zugrundeliegende Sachverhalt, das spurlose Verschwinden einer jungen Frau, liegt von der erzählten Gegenwart aus fünf Jahre in der Vergangenheit, akuter Zeitdruck besteht somit nicht. Auch die Polizei hat die Suche bereits eingestellt, der übliche Blick in die Schaltzentrale, wo alle essentiellen Informationen zueinander finden, bringt also für den Leser nur geringen Erkenntnisgewinn. Dennoch versteht es die Autorin im Spiel mit der Ungewißheit immer wieder Momente zu schaffen, in denen jeder Ausgang der Geschichte möglich scheint. Der Finger erstarrt über der Stop-Taste des Hörbuchplayers, zu verlockend ist das Versprechen auf Auflösung im nächsten Kapitel. Oder im übernächsten. Wurde Elaine Dawson Opfer eines Verbrechens, oder hat sie einen bewußten Schnitt in ihrem für sie trostlosen Leben vollzogen?
Ähnlich ambivalent scheinen auch die überaus lebendig gestalteten Nebenfiguren mit ihren ganz eigenen Anliegen und parallelen Handlungssträngen. Zwar könnte jede von ihnen – etwa für eine gekürzte Hörbuchfassung – ausgespart bleiben, ohne den Kontext zu beeinträchtigen, jedoch sind sie gerade so stark mit dem Schicksal der Hauptfigur verbunden, daß durch sie ein erfrischender Gewinn an Lebendigkeit erreicht wird. Die Konzentration auf scheinbar Nebensächliches mag zwar stellenweise die Handlung strecken, sorgt aber auch für spannende Cliffhangermomente. Möglicherweise erweist sich diese Stärke noch in einer anderen Form als Schwäche: Nach einem aufregenden Showdown nach etwa zwei Dritteln verliert der Roman an Kraft, die eigentliche Auflösung verkommt zur Pflichterfüllung und wird durch eine nicht mehr notwendige Wendung nur mehr hinausgezögert.
Als Charlotte Links Hörbuchstimme schlechthin gilt die deutsche Schauspielerin Gudrun Landgrebe. Mit Britta Steffenhagen erleben wir nun eine andere Generation am Mikrophon. Während erstere klingt, als trüge sie alle mütterliche Last der Welt auf ihren müden Schultern, entspricht letztere eher einem Teenager, der seine Grenzen noch auszuloten hat. Die Frage, welcher Typ nun für die Geschichte einer Frau in ihren Zwanzigern auf der Suche nach einer verschollenen Freundin besser geeignet wäre, wird wohl mangels Vergleichbarkeit eine akademische bleiben. Die aktuelle Sprecherin zeichnet sich durch eine junge, relativ hohe Stimme aus. Diese prädestiniert sie für charakteristische Figuren, etwa für eine einzelne Rolle in “Girl on a train”, als Instanz des neutralen Erzählers kostet diese Jugendlichkeit oft an Authentizität. Insbesondere männliche Figuren gehobenen Alters werden nicht optimal getroffen, hier wird die Stimme oft unglaubwürdig kratzig. In derartigen Momenten würde man sich oft einen Mittelweg zwischen Landgrebe und Steffenhagen wünschen.
Persönliches Fazit
Einmal mehr erklärt die deutsche Autorin ihre Liebe zu den britischen Inseln in Form eines zwar nicht hochspannenden, aber wohlkonstruierten, stimmungsvollen Romans über zwei miteinander verknüpfte Frauenschicksale.
© Rezension, 2015 Wolfgang Brandner
Random House Audio - ISBN: 9783837126914
2014
Hörbuch, ungekürzt, 3 mp3-CDs, ca. 1056 Min., gelesen von Britta Steffenhagen