In der “Villa Gründgens”, dem Weimarer Alterssitz für Bühnenkünstler, wird die Probenarbeit des “Schiller-Zirkels” jäh unterbrochen: Aus der greisen Theatergruppe stirbt unter mysteriösen Umständen einer nach dem anderen. Roman Kaminski, Kutscher und Stadtführer in der Goethe-Stadt, sieht sich gezwungen, der rätselhaften Todesserie auf den Grund zu gehen. Doch der ehrgeizige Kommissar Westphal scheint Kaminski in der Hand zu haben, der zu allem Überfluss auch noch zwischen zwei Frauen steht. [Text + Cover: © Knaus Verlag]
Weimar ist eine Freiluftkathedrale, die dem einzigen Zweck dient, dem berühmtesten Einwohner der Stadt, Johann Wolfgang von Goethe, immerfort zu huldigen. Da rattern Pferdekutschen über glattgewaschenes Kopfsteinpflaster, da finden sich mehr Denkmäler als Verkehrsampeln, und an allen Ecken schmettern altertümlich gekleidete Zeitgenossen pathetisch ihre Zitate aus “Faust” oder “Wilhelm Meister”. Dieser Eindruck der Metropole in Thüringen scheint laut Dominique Horwitz zu bestehen, und er gibt sich in seinem Roman zunächst auch alle Mühe, dieses Klischee zu bestätigen. “Was die Leute in Weimar suchten, war eine heroische Vergangenheit, kulturell feuervergoldet, garantiert erbaulich”, resümiert er die touristischen Erwartungen. Diese führen jedoch nicht nur ein vorgefertigtes Bild im Gepäck, sondern auch einen unterschiedlichen Wissensstand. Von gelangweilten Teenagern, die weniger an poetischen Umschreibung des schönsten Gefühls, sondern vielmehr dessen aktiver Praktizierung interessiert sind, bis hin zu besserwisserischen Bildungsbürgern, die aus Goethe-Biographien zitieren, reicht das Spektrum. Ebenso, wie aber nicht alle Österreicher in Lederhosen gekleidet jodeln und nicht alle Spanier permanent Flamenco tanzen, hat auch Weimar ein alltägliches, zeitgemäßes Gesicht. Indem der Autor diese vertraut unaufgeregte Normalität dem der Atmosphäre des Freiluftmuseums gegenüberstellt, schlägt sein Roman eine Brücke von der verklärten Klassik in die Gegenwart. Geschickt gewählt ist daher auch die Hauptfigur: Um einerseits das offizielle Weimar mit seinen Gedenkstätten und historischen Anekdoten, andererseits das inoffizielle mit seinen Wirtshäusern und Seitengassen zu präsentieren, gibt es wohl keinen geeigneteren Protagonisten als einen kutschenfahrenden Touristenführer namens Kaminski.
Dieser nimmt nun in einer Residenz für betuchte Senioren die Hausmeisterstelle an, die aufgrund des Ablebens seines Vorgängers vakant geworden ist. Daß eben dort der natürliche Altersprozeß auf unnatürliche Weise beschleunigt wird, zeigt sich, als mehrere Bewohner ebenso vorzeitig ihre letzte Reise antreten. Anstatt jedoch die ihre Arbeit verrichten zu lassen, läßt der Autor einen schmierigen Beamten seinen Kutscher Kaminski zur Detektivarbeit erpressen. Offensichtlich mußte hier eine Möglichkeit gefunden werden, die liebgewonnene Figur genreadäquat kriminalistische Arbeit verrichten zu lassen, was im konkreten Fall nicht hundertprozentig stimmig wirkt. Ein verzeihlicher Kunstgriff, eröffnet doch die neue Situation eine Gelegenheit, die Bewohner näher kennenzulernen, als dies in der Beschäftigung mit undichten Abflußrohren und defekten Beleuchtungskörpern möglich wäre.
Und hier liegt die wahre Stärke des Romans:
In der Villa Gründgens (so der Name der Seniorenresidenz) trifft Kaminski im wahrsten Sinne des Wortes auf ein Ensemble an originellen Persönlichkeiten. Ensemble deshalb, weil die dortige Theatergruppe sich zum Ziel gesetzt hat, der inflationären Goethe-Präsenz ein Stück des zweiten prominenten Sohnes der Stadt entgegenzusetzen. Mit ständig neuen Ideen zur Inszenierung wird in geradezu rebellischer Manier Schillers “Räuber” einstudiert. Unter den wachen Augen der nymphomanischen Leiterin finden sich unter anderem ein ehemaliger Opernsänger mit Vorliebe für Elvis Presley, eine Schauspielerin, die sich einer ganz und gar unpoetischen Ausdrucksweise bemächtigt oder ein Oberst, dessen Angewiesenheit auf seinen Rollstuhl offen angezweifelt wird, auf der Besetzungsliste. Jede dieser Figuren stattet der Autor mit einem unverwechselbaren Idiom aus, sodaß der aufmerksame Leser nach einem ersten Kennenlernen eine direkte Rede sofort dem Sprecher zuordnen kann. Die Mehrzahl der Bewohner erlebt zudem einen zweiten Frühling, sodaß die Hormonkonzentration mit jener eines Schülerheims vergleichbar sein dürfte.
Zuweilen wirkt die sexuelle Komponente etwas überstrapaziert, auch vor brachialer Symbolik scheut der Autor nicht zurück: So gelingt es Kaminski, aus einem versperrten Raum zu entkommen, indem er mit Hilfe einer Goethe-Büste die Tür aufbricht. Unmissverständlicher kann man die befreiende Kraft des Geistes wohl kaum versinnbildlichen. Gerade dieses Bild unterstreicht somit den Gesamteindruck einer völlig überdrehten Karikatur, die dem Autor beim Entwerfen wohl ein ähnliches Vergnügen bereitet haben dürfte wie dem Leser. Um mit den Worten eines Ensemble-Mitglieds zu resümieren: “Junger Mann, diese irre Mischung aus Sex, Gewalt und Langeweile gibt es nur im Seniorenheim.”
Persönliches Fazit
TOD IN WEIMAR ist eine eigenwillige Hommage an Weimar und ihre großen Söhne, die geradezu exhibitionistisch das züchtige Gewand eines biederen Krimis ablegt und darunter ein unterhaltsames Zusammenspiel origineller Charaktere zum Vorschein bringt.
© Rezension: 2016, Wolfgang Brandner
Kriminalroman
Knaus Verlag
2015
gebunden, 288 Seiten