Jules und seine Geschwister Marty und Liz sind grundverschieden, doch ein tragisches Ereignis prägt alle drei: Behütet aufgewachsen, haben sie als Kinder ihre Eltern durch einen Unfall verloren. Obwohl sie auf dasselbe Internat kommen, geht jeder seinen eigenen Weg, sie werden sich fremd und verlieren einander aus den Augen. Vor allem der einst so selbstbewusste Jules zieht sich immer mehr in seine Traumwelten zurück. Nur mit der geheimnisvollen Alva schließt er Freundschaft, doch erst Jahre später wird er begreifen, was sie ihm bedeutet – und was sie ihm immer verschwiegen hat. Als Erwachsener begegnet er Alva wieder. Es sieht so aus, als könnten sie die verlorene Zeit zurückgewinnen, doch dann holt sie die Vergangenheit wieder ein. [Klappentext & Cover: © Diogenes Verlag]
Dass Benedict Wells ein wahres Schreibtalent besitzt, hat er schon in SPINNER, BECKS LETZTER SOMMER und FAST GENIAL unter Beweis gestellt. Ich war daher wie so viele andere auch sehr gespannt auf sein viertes Werk und fieberte der Erscheinung entgegen. Als ich dann endlich zu lesen begann, merkte ich sehr schnell, dass ich hier eine wahre Buchperle in Händen halte. Ich las immer langsamer, um so viel wie möglich aufnehmen zu können. Ich litt und freute mich mit den Protagonisten und ich dachte unglaublich viel über das gerade Gelesene nach, denn in manchen Dingen entdeckte ich mich auch selbst wieder.
Der Roman ist vielschichtig und intensiv und im ersten Moment mag man vor der Thematik etwas zurückschrecken, denn es geht um Verlust, Verarbeitung und um Einsamkeit. Es fehlt keinesfalls an melancholischer Dramaturgie, aber sie wirkt nie belastend. Benedict Wells betrachtet die Thematik aus verschiedenen Blickwinkeln und überzeugt unter anderem durch eine äußerst beeindruckende Sprachgewalt. Das hat er schon in seinen vorherigen Romanen können aber in “Vom Ende der Einsamkeit” setzt er diesbezüglich noch einmal eins drauf. Es ist schlichtweg ergreifend, seine Art zu schreiben und seine beeindruckenden Metaphern hinterlassen bleibende Spuren.
Der 40-jährige Jules, der Icherzähler des Romans, hatte einen schweren Motorradunfall. Als der Vater von Zwillingen nach zwei Tagen aus dem Koma erwacht, beginnt er seine Gedanken zu ordnen. Er reist gedanklich in die Vergangenheit und lässt seine Kindheit und Jugendzeit und auch sein späteres Erwachsenendasein linear verlaufend Revue passieren. Er nimmt uns Leser mit auf eine Reise voller Hochs und Tiefs, einer Reise durch das wahre Leben. Das Leben hält immer wieder Überraschungen für uns bereit und leider sind nicht alle schön. Immer wieder gabelt sich der Weg, wir werden gezwungen, Entscheidungen zu treffen und wir müssen Abschied nehmen, lernen den Abschied zu akzeptieren und damit umzugehen. Doch wie tut man das? Wie kann man loslassen? Kann man überhaupt loslassen?
“Im Radio liefen Chansons, und für einen Moment war es wie früher, nur dass zwei Menschen fehlten. Es war wie früher, nur dass nichts mehr wie früher war.” Seite 72
Jules und seine Geschwister Liz und Marty müssen sich schon in ganz jungen Jahren damit auseinander setzen, als ihre Eltern durch einen Unfall plötzlich aus deren Leben und deren Mitte gerissen werden. Glück und Unglück liegt so nah beieinander, von einem zum anderen Moment kann die Welt plötzlich eine ganz andere sein, da reicht ein Anruf…
Trauer verarbeitet jeder auf seine ganz eigene Weise. So auch die drei Geschwister, die sich dadurch immer weiter auseinander leben. In der nun folgenden Zeit auf dem Internat zieht sich Jules, zuvor selbstbewusst und mutig, immer mehr zurück und wird zum Einzelgänger während Liz eine sehr rebellische Zeit erlebt und eine tiefer gehende Liebe verweigert. Diese Fassade wird immer dicker um sie herum, bis sie selbst nicht mehr aus ihr heraus kann. Marty, der schon vor dem Tod der Eltern nerdige Züge aufwies, entwickelt sich nun komplett in diese Richtung und wird zudem übervorsichtig und sein Sicherheitsbestreben zeigt sich in diversen Ticks wie permanentes abgezähltes Klinkendrücken beim Verlassen eines Hauses.
Doch bleibt die Frage, ob dies nicht charakteristische Eigenschaften sind, die unveränderlich in den Genen sind und sich so oder so entwickelt hätten – ganz unabhängig davon, welchen Verlauf das Leben letztlich nimmt, welche Lebenserfahrungen man machen muss.
“Das hier ist alles wie eine Saat. Das Internat, die Schule, was mit meinen Eltern passiert ist. Das alles wird in mir gesät, aber ich kann nicht sehen, was es aus mir macht. Erst wenn ich ein Erwachsener bin, kommt die Ernte, und dann ist es zu spät.” Seite 67
Jules einzige wahre Freundin zu Internatszeiten war Alva. Sie verstand ihn und akzeptierte ihn so wie er war. Doch auch sie hatte mit ihrer Vergangenheit zu kämpfen, doch darüber sprechen möchte sie kaum. Was sich zu einer schönen Romanze hätte entwickeln können, wurde von Alva ausgebremst und die beiden verlieren sich aus den Augen, allerdings nie aus den Gedanken. Das Schicksal führt sie viele Jahre später wieder zusammen auf der Achterbahn des Lebens, weiter geprägt von Verlust und Glück, von Hoffnung, Liebe und Trauer. Aber all das liegt so nahe beieinander, all dies ist das wahre Leben…
Benedict Wells stellt all seine Charaktere wunderbar facettenreich dar. Er beobachtet sie fast liebevoll und setzt sich mit ihnen auseinander, wodurch großartige Zeichnungen der Persönlichkeiten entwickelt haben. So entstehen trotz der Tragik auch immer wieder humorvolle und frohe Momente.
PERSÖNLICHES FAZIT
Ein berührender und trotz der schweren Thematik ein sehr lebensbejahender Roman voller Zusammenhalt und ja, auch Geborgenheit – und natürlich auch eine Jahrzehnte übergreifende Liebesgeschichte. Inhaltlich und vor allem sprachlich eine wahre Buchperle, die ich dringend empfehlen kann und möchte.
© Rezension: 2016, Alexandra Zylenas
Diogenes Verlag, ISBN 978-3-257-86285-0
2016