Im Jahr 1978 machte sich der Schriftsteller Paul Theroux, nach Fertigstellung eines Buchs, auf die Reise. Die Idee war, von Boston aus mit Zügen soweit nach Süden zu fahren, bis die Bahnstrecke endet. Das ist im Süden Argentiniens – was für eine Strecke! Über zwei Monate wird er unterwegs sein, und dementsprechend ist auch sein Buch darüber ausgefallen: ein dicker Schmöker im besten Sinne, eine Reise, in die ich als Leser richtig eintauchen kann.
Die Züge, die er benutzt sind so unterschiedlich wie die Länder, durch die sie fahren. Von der modernen Bostoner U-Bahn bis zu Zügen, bei denen die Waggons weder Türen noch Fenster haben und der Staub den Passagieren den Atem nimmt, ist alles dabei. Mal bequeme Schlafwagen, mal Sitze, deren Polster so zerrupft sind, dass das Sitzen kaum erträglich ist. Komfortabel ist es selten, daher bewundere ich die Hartnäckigkeit von Theroux, ich hätte die Reise bestimmt abgebrochen, denn schließlich mach er sie ja freiwillig. Obwohl ihn hin und wieder Heimweh packt, hält er an seinem Ziel fest.
Ganz ungefährlich ist so eine Reise nicht. Die Verkehrssicherheit in El Salvador beispielsweise ist nicht so hoch wie bei uns (auch wenn überall Unfälle passieren), wegen eines Streiks in einem Kuhdorf festzusitzen ist auch keine schöne Aussicht, und Bombenanschläge gibt es auch in der Nähe der Route. Theroux beschäftigt sich auch mit den politischen Verhältnissen. Das ist eine kleine Zeitreise, denn schließlich fand die Tour schon vor 38 Jahren statt. Auch wenn sich die Personen an der Macht ändern, ob sich die spezielle Art der Demokratie in den mittel- und südamerikanischen Staaten seither stark geändert hat, ist fraglich. Darüber hinaus merkt man dem Reisebericht sein Alter nicht an.
Auch die Armut ist ein Thema im Buch. Wenn in Kolumbien die Drogenbarone in ihren Festungen auf ihrem Geld sitzen und gleichzeitig in Bogotá bettelnde Kinder auf der Straße leben und verhungern, geht das am Autor nicht spurlos vorbei:
Was für eine Scheiße! Wie abscheulich, dass Kinder so umkommen sollten. (S. 371)
Natürlich hat er während seiner Reise einige mehr oder weniger interessante Begegnungen. Ein richtiger Menschenfreund scheint er nicht zu sein, immer wieder lässt er zynische Anmerkungen los. Das finde ich amüsant und eigentlich auch sympathisch. Ich kann es nachvollziehen, dass es nervt, wenn man sich auf die wunderbare Landschaft einlassen will und jemand neben dran ständig einen dummen Kommentar dazu ablässt.
Ich habe immer noch ein Faible für die Unvoreingenommenheit amerikanischer College-Studenten, aber dieses Mädchen erinnerte mich daran, wie viele ich kennengelernt habe, denen nichts beizubringen war. (S. 32)
Als Autor kann er kann er hervorragend mit Worten umgehen. Dadurch werden die Beschreibungen besonders bildhaft und die Atmosphäre ausgezeichnet vermittelt. Seine Beobachtungen sind konkret, der Text meist schnörkellos und flüssig, manchmal aber auch poetisch.
Der Ort war mir empfohlen worden, weil er freundlicher und übersichtlicher sei als Dallas. An diesem Februarnachmittag allerdings sah er bloß grau und kiesig aus, eine texanische Stadt von pompöser Bedeutungslosigkeit, in der der Wüstenwind blutige, ketchupgetränkte Sandwichtüten gegen Männer blies, die ihre albernen Hüte festhielten. (S. 60)
Persönliches Fazit
Eine ungewöhnliche Tour, die zu einem wundervollen Reisebericht wurde. Die Beschreibungen von den Zugfahrten, Städten, Dörfern und Landschaften, Mitreisenden und Einwohnern sind pointiert und sprachlich ausgezeichnet. Jedem, der gern verreist, kann ich es sehr empfehlen, mit Paul Theroux in den Zug zu steigen und mit ihm den amerikanischen Kontinent zu erleben.
© Rezension: 2016, Marcus Kufner
Sachbuch
Hoffmann und Campe Verlag - ISBN: 9783455503999
2016
gebunden, 576 Seiten
2 comments
Die Meinungen von erklaerischen und gebildeten Schriftstellern, die durch Latein Amerika fahren, interessieren mich viel.
Sehr lesenswert, in schönster bildhafter Sprache geschrieben. Ein echtes Abenteuer. Steigen Sie ein.