Mit diesem ersten Satz ist meine Aufmerksamkeit gleich geweckt: „Lydia ist tot.” Aus dieser Tatsache entsteht keine Spannung, wohl aber aus den Fragen, die sich daraus ergeben: Wer war sie, was ist geschehen, wie ist es dazu gekommen? Um das zu verstehen lernen wir die Familie Lee genauer kennen.
Als James und Marilyn sich in den 50er Jahren kennen lernten und heirateten war die Vermischung von Rassen für viele ein Dorn im Auge. In Ohio gab es zu der Zeit nicht viele Bewohner asiatischer Abstammung, so dass James immer wieder ausgegrenzt wurde. Das kriegen auch die Kinder ab, da auch sie in der Schule exotisch sind.
„Man sah es an den kleinen Jungen auf dem Spielplatz, die ihre Augen mit den Fingern zu Schlitzen zogen – Chinesen! – Japaner! – schaut sie euch an -, und an den älteren Jungen, die ching chong ching chong murmelten, wenn sie auf der Straße an einem vorbeigingen, gerade so laut, dass man es hörte.”(S. 188)
Unterschiede der Kultur, Tradition oder Religion sind hier kein Thema, wohl aber die Sicht von außen. Diese Verbindung entspricht auch nicht der Vorstellung von Marilyns Mutter. Dass sie mit einem Professor eine Familie gründet und sich um den Haushalt kümmert ist zwar genau das, was sie ihrer Tochter empfohlen hat, aber mit einem Chinesen? Das geht ihrer Meinung nach gar nicht.
Marilyn hatte eigentlich genau das Gegenteil von dem geplant, was ihre Mutter wollte. Sie wollte studieren und Karriere machen zu einer Zeit, in der das für Frauen nicht selbstverständlich war. Aber es kam – wie so häufig – anders. Da sie ihre Träume aufgeben musste, projiziert sie ihre Ziele auf ihre Tochter Lydia. Sie soll alle Möglichkeiten bekommen – Studium, Beruf, Karriere. Sie setzt Lydia damit enorm unter Druck. Die will ihre Mutter nicht enttäuschen und nickt ab, was ihr vorgeschlagen wird.
Dass die anderen beiden Kinder durch diese Fokussierung kaum Aufmerksamkeit bekommen, entgeht Marilyn. Immer wieder gibt es Szenen, wo ich eingreifen will, sie darauf aufmerksam machen, was ihr entgeht. Auch wenn das Konfliktpotenzial hat und es bei den Gesprächen förmlich knistert, die beiden ziehen sich eher zurück, was eine traurige Stimmung hinterlässt. Was ein wenig Interesse doch bewirken könnte!
Persönliches Fazit
Es gelingt Celeste Ng durch intensive Charakterisierung und einen guten Handlungsaufbau die komplexen Zusammenhänge der Familienbindung glaubhaft darzustellen. Die Folgen von Entscheidungen, Vorlieben und Druck von außen haben mich bis zum Ende überzeugt. Nicht zuletzt ist WAS ICH EUCH NICHT ERZÄHLTE auch ein sehr lesenswerter Aufruf zu mehr Mut, auch gegen die Erwartungen anderer, man selbst zu sein.
© Rezension: 2016, Marcus Kufner
Roman
dtv Verlag - ISBN: 9783423280754
2016
gebunden, 288 Seiten