Pete hat keinen einfachen Job. Als Sozialarbeiter muss er immer wieder entscheiden, ob er Kinder bei ihrer Familie lassen kann. Kümmert sich die alkoholsüchtige Mutter ausreichend um ihren Sohn? Leiden die Kinder des religiösen Fanatikers? Werden sie geschlagen oder vernachlässigt? Dann muss er einschreiten und für den Nachwuchs eine Pflegefamilie oder ein Heim finden. Manch Tochter oder Sohn wachsen Pete ans Herz, und er macht sich richtig Sorgen um sie. Er ist ein Typ, der trotz der teilweise harten Umstände noch nicht abgestumpft ist. Sie in ein Heim zu bringen ist aber fast mit Gefängnis zu vergleichen.
„Es gab Kinder mit Narben auf dem Rücken, die unter der Dusche glühten wie geschmolzenes rosa Wachs. Kinder, die keinen Respekt vor persönlichem Eigentum oder Privatsphäre kannten und einem die Zahnbürste wegnahmen oder einen ohne Vorwarnung angrapschten. Kinder, die bissen.” (S. 239)
Welche Chance haben Kinder, die unter solchen Bedingungen aufwachsen? Die in Familien hineingeboren werden, in denen die Eltern nicht einmal mit sich selbst zurechtkommen. Auch wenn Pete ihnen etwas Hilfe anbieten kann, haben sie es sehr schwer, sich halbwegs normal zu entwickeln.
Trotz seiner Erfahrungen mit Jugendlichen trifft es ihn hart, als seine Tochter abhaut. Er hatte seine Familie vor einiger Zeit verlassen und sich kaum noch um sie gekümmert. Ihre Mutter hat sie vor lauter Alkohol und Drogen auch vernachlässigt. Er macht sich jetzt Vorwürfe, und mit jedem Tag, an dem sie verschwunden bleibt, geht es mit Pete wie in einem Strudel bergab, er wird immer verzweifelter.
„Und immer wieder im Lauf dieser Tage dachte er, o mein Gott, was hatte er nur getan, er hatte in allem, worauf es ankam, versagt und es vor allen Dingen nicht geschafft, sie seine Liebe so spüren zu lassen, dass sie in der Not zu ihm flüchtete.” (S. 310)
Das hört sich alles recht düster und deprimierend an? Das ist auch der Grundton im Buch. Die Charaktere machen größtenteils den Eindruck, in ihrem Verhaltensmuster gefangen zu sein. Da ist nicht viel Platz für Optimismus. Und doch gibt es Menschen, die sich um andere kümmern. Auch wenn es oft nur Gesten sind, es hilft, den täglichen Kampf fortzuführen.
Ich mag es, wenn ein Autor seiner Geschichte den Platz gibt, den sie braucht, um sich zu entwickeln. Mit seinen gut 600 Seiten macht das MONTANA, und es macht es vorbildlich. Mir kam das anfangs sehr ambitioniert vor, das Buch gleich nach einem ganzen Bundesstaat zu benennen, aber das ist in diesem Fall durchaus gerechtfertigt. Mit seinen Beschreibungen von Wald und Wildnis und von der Kälte erschafft er eine authentische Atmosphäre. Ein gelungenes Gimmick ist die Idee, die Sicht seiner Tochter in Abschnitten im Interviewstil einzustreuen, das lockert den Text angenehm auf.
Persönliches Fazit
© Rezension: 2016, Marcus Kufner
Roman
Luchterhand Verlag - ISBN: 9783630874401
2016
gebunden, 608 Seiten