Haben Sie die Gene zum Überleben?
Immer, wenn Marc Elsberg sich eines Themas annimmt, wird es beunruhigend.
Bereits, als von intelligenten Stromzählern noch keine Rede war, entwarf er ein Katastrophenszenario, das mittlerweile als durchaus möglich erscheint. Noch bevor die Sinne der Öffentlichkeit geschärft waren, warnte er vor allzu freizügigem Umgang mit persönlichen Daten in den Sozialen Netzwerken.
Und diesmal? Nichts Geringeres als die Weiterentwicklung der Menschheit, genauer, die Veränderung von genetischem Erbgut, steht im Zentrum von “Helix”. Wie bereits zuvor in “Blackout” und “Zero” widmet sich der Autor auch diesmal wieder einem komplexen, gesellschaftlich brisanten Thema. Den Auftakt dabei bildet ein ebenso spektakuläres, wie im Verlauf der Handlung wenig logisches Attentat, dessen einziger Zweck offensichtlich darin besteht, dem Leser klarzumachen, wie er seine nächsten Stunden verbringen wird. Bereits der erste Satz nagelt den Blick an die Zeilen:
“Dann stand nur mehr das Rednerpult auf der Bühne des voll besetzten Hotelsaals, und der US-Außenminister lag reglos daneben.” (S.11)
Dabei wirkt nicht nur der Satz als ganzes wie ein reißender Strom, von dem der Leser mitgerissen wird, schon das erste Wort, “Dann”, stellt einen noch unbekannten Kontext her. Es signalisiert, daß es keinen Anfang und kein Ende gibt, nichts in sich Abgeschlossenes. Es gibt ein Davor und ein Danach, der Text ist keine harmlose zwischen zwei Buchdeckel gebannte Fiktion, sondern er quillt darüber hinaus. Der Gegenstand ist zu groß, er betrifft – obgleich als Erzählung aufbereitet – in absehbarer Zukunft unseren Alltag.
Im Stil folgt der Autor bewährten Mustern: Der Themenkomplex wird aus unterschiedlichen Perspektiven in rascher Kapitelabfolge beleuchtet. Die einzelnen Erzählstränge verweben sich dabei nach und nach zu einem Gesamtbild. Wissenschaftliche Zusammenhänge werden in leicht faßbaren Dialogen aufbereitet, wobei sich das Gespür des Autors erweist, seine Leser weder zu über-, noch zu unterfordern. Anhand einer actiongeladenen Geschichte, die in ein hollywoodreifes Finale mündet, entwickelt der Leser ein erstes Gespür für die weitreichenden Konsequenzen der Gentechnologie.
Geschickt sind auch jene Fragestellungen eingewoben, die starkes Unbehagen auslösen. Ist der Fortschritt, jener Begriff, unter dem in Entwicklung begriffene Technolgien zusammengefaßt sind, unaufhaltsam? Verhält er sich wie eine Naturgewalt, die über den Menschen hereinbricht? Oder kann er gezähmt, vielleicht sogar kontrolliert werden? Wenn er sich ethischen Regeln unterwerfen muß, wie lauten diese, und von wem werden sie definiert? Der Roman handelt von sogenannten “modernen Kindern”, Menschen, deren Genom mit Eigenschaften wie gesteigerter Intelligenz oder Körperkraft ausgestattet ist. Dabei wird der Mensch zu einer Ware, werdende Eltern können sich aus einem Katalog mit einem Baukastensystem ihr Wunschkind entwerfen und bestellen. Wie aber kommt der Preis zustande, wie wird der Wert menschlichen Lebens bemessen? Errechnet sich der Preis bloß aus der Summe der Einzelkosten der genetischen Legosteine? An der Qual der Wahl eines Paares läßt der Autor den Leser teilhaben:
“Helen überflog die Liste. Geschlecht, Haarfarbe, Augenfarbe, Athletik, Ausdauer, Schlafdauer, Reaktionsschnelligkeit …” (S. 223)
In welcher Weise werden derartige Wunschkinder die Gesellschaft beeinflussen? Wird es zu einem genetischen Wettrüsten kommen, aus dem nur jene als Sieger hervorgehen können, deren Eltern sich die besten Upgrades für ihren Nachwuchs leisten können? Wird die Konsequenz etwa eine noch stärkere Abschottung einer zahlenmäßig kleinen Gruppe von materiell begüteten Entscheidungsträgern sein?
“Helen wechselte ihr Smartphone alle zwei bis drei Jahre. Was machte man mit veralteten Menschenmodellen? Nach drei Jahren?” (S. 492)
Scheinbar offensichtliche Überlegungen wie diese werden nicht etwa von Wissenschaftern oder den hochintelligenten Kindern, sondern bewußt von Figuren ohne spezielle Ausbildung formuliert. Der Untertitel des Romans “Sie werden uns ersetzen” bezieht sich genau auf diese Urangst: Was, wenn das Geschöpf seine Fesseln abwirft und sich über den Schöpfer erhebt? Wie wird der Mensch damit umgehen, wenn er sich plötzlich nicht mehr an der Spitze der Evolution findet? Das Spiel mit diesem Szenario ist ein beliebter Topos in der Unterhaltungsliteratur. In “Nur dein Leben” (Originaltitel “Perfect People”) beschäftigte sich der britische Autor Peter James bereits 2011 mit einer Klinik, die Kinderwünsche auf Bestellung realisiert. In “Extinction” des Japaners Kazuaki Takano ist der Sprung in der menschlichen Evolution noch Folge natürlicher Mutation und nicht von Experimenten im Labor, und in “Nexus” von Ramez Naam [Link zur Rezension] verschmelzen Mensch und Maschine miteinander.
Obwohl Marc Elsberg für seine akribischen Recherchen bekannt ist, wirkt das Thema diesmal abstrakter, weniger greifbar als in den beiden Vorgängerromanen. Dies mag einerseits an der deutlicheren Präsenz der Stromversorgung und Sozialen Netzwerke im Alltag liegen, andererseits an der Heftigkeit, mit der die Geschichte an unserem Selbstverständnis als Mensch rüttelt. Wird die Qualität eines Romans auch daran gemessen, wie lange er den Leser beschäftigt, nachdem im Epilog noch sämtliche Zweifel neu aufgeheizt wurden, so zählt “Helix” gewiß zu den wichtigsten Titeln des Jahres.
Persönliches Fazit
© Rezension: 2016, Wolfgang Brandner
Roman
Blanvalet Verlag - ISBN: 9783764505646
2016
gebunden, 648 Seiten
6 comments
Eine schöne Rezension, die ich sehr interessant finde, denn bisher habe ich nur eher negative gelesen und ich selbst habe auch nicht sehr positiv rezensiert. Da ist es schön zu sehen, dass es seine Fans hat.
LG Lexa
Hallo Lexa, danke für Deine lobenden Worte.
Von den negativen Rezensionen zu “Helix” habe ich auch einige gelesen: Den fachlich versierten Lesern ist Elsberg zu unscharf in seinen Begriffen, jenen, die nur einen spannenden Thriller suchen, ist zu viel wissenschaftlicher Kontext enthalten … das bekannte “Niemandem kann man's rechtmachen”-Problem also.
Meiner Meinung nach hat Elsberg einen eleganten Kompromiß gefunden, der mich erstens an die Geschichte gefesselt hat und zweitens mir hinterher das Gefühl gab, etwas gelernt zu haben. Auch diese Gratwanderung muß man erst einmal beherrschen.
Liebe Grüße, ich freue mich auf Deinen nächsten Kommentar und den nächsten Roman von Marc Elsberg (wobei ich hoffe, auf ersteren nicht so lange warten zu müssen.)
Wolfgang
Mich hat das Buch gefesselt und begeistert. Die Geschichte ist auch einfach fesselnd und regt halt auch zum Nachdenken an. Als reine Abendlektüre vor dem Schlafen gehen ist Helix aber sicherlich nicht die richtige Wahl. Ich habe das Buch weiterempfohlen und auch verschenkt und werde sicherlich nochmal dazu greifen. Nach der Lektüre habe ich mich zudem noch ein bisschen in das Thema eingelesen.
Hallo MIcha,
vielen Dank für Deinen Kommentar. Marc Elsberg ist vor allem deshalb ein bemerkenswerter Autor, weil er ein feines Gespür für Themen hat, die immer erst nach und nach an Aktualität gewinnen. In gewisser Weise ist Elsberg also eine Art gesellschaftliches Frühwarnsystem. Ich bin ja immer schon mit einer Mischung aus Unbehagen und kribbelnder Spannung neugierig auf den folgenden Roman aus seiner Feder. Insofern hast Du recht, als Gutenachtlektüre ist er nicht unbedingt geeignet, dazu hält er die Gedanken zui sehr auf Trab.
Liebe Grüße
Wolfgang
Das stimmt. Ich bin auch gespannt, wann er wieder einen entsprechenden Roman veröffentlicht. Dabei ist es aber schon so, dass die Erwartungen – auch an das brisante Thema – hoch sind.
Eine spannende Handlung und für meine Bedürfnisse und Wissensvorraussetzungen gut erklärte Fachbegriffe machen das Buch zu einem Bestseller.
Ich finde die dargestellten Szenarien gar nicht mal so realitätsfremd.
Ich wünsche mir eine Fortsetzung des Buches HELIX.